Schweizer Ware
aufgescheucht werden. Nun huschten sie, immer wieder verängstigt über die Schultern blickend, zur Ausgabestelle zurück.
»Wieder kein Schlaf«, litt Baumer mit und blickte weiter dahin, wo sein Freund unterwegs war. Einzig der gedämpfte Sirenengesang war noch zu hören. Er wurde rasch leiser und verabschiedete sich als flehendes Klagen in Richtung Badischer Bahnhof. Baumer schloss daraus, dass Heinzmann über den Rhein ins Kleinbasel preschte. Der Klang der Sirene kam ihm vor wie das Rufen einer Flussnixe um Hilfe. Ihre Schreie wurden immer leiser, als zöge sie die kalte Strömung des schmutzig braunen Rheins weg. Wenn sie Glück hätte, würde ein Fischer im Elsass sie hören, sich ihrer erbarmen und sie retten. Doch heute gab es keine Elsässer mehr, die im Rhein nach Nahrung und Einkommen suchten. Die saßen in einem seelenlosen Großraumbüro und warteten darauf, dass es endlich 11 Uhr 18 werden würde. Dann könnte man langsam daran denken, sich gemächlich auf den Weg in die Kantine zu machen. Dort würde man das Essen zackig verschlingen.
Bami Goreng.
Baumer hatte keinen Hunger. Die Aussicht, schon wieder in das Kantonsspital gehen zu müssen, schlug ihm auf den Magen.
Er wollte Freundinnen der Amadio besuchen, und hier waren grad ein paar davon in stationärer Behandlung. So ging das in einem Aufwasch.
Der Kommissar bewegte sich vorwärts, die hohen, schweren Glastüren sirrten automatisch auf. Er trat ein und hinkte zur Information.
Hinter der Glasscheibe saß ein etwa 40-jähriger, schlaksiger Portier ziemlich tief auf einem Bürodrehstuhl. Als er seinen nächsten Kunden an die Pförtnerloge treten sah, stand er flink von seinem Stuhl auf und öffnete ein kreisrundes Fensterchen an der Fensterfront. Durch diese kleine Öffnung, die auf durchschnittlicher Kopfhöhe – also ein wenig zu weit unten für Baumer – angebracht war, sprach er. »Ja, bitte.«
»Guten Tag. Mein Name ist Baumer. Ich bin Kommissar. Basler Kriminalpolizei.« Kaum hatte er das gesagt, fiel ihm ein, dass er keinen Ausweis dabei hatte. Er hatte seine Geldbörse radikal ausgemistet, als er nach Griechenland geflogen war. Alles Berufliche – Ausweise, Marke, und so weiter – hatte er zu Hause gelassen. Nach seiner Rückkehr hatte er sie noch nicht wieder eingesteckt. Dem braunhaarigen Portier mit nichtssagendem Gesicht schien das aber nichts auszumachen. Er fragte überhaupt nicht nach einem amtlichen Dokument. Für ihn war Baumer ein Kunde. So gut wie jeder andere. Sein Modus war seit Jahren eingeschliffen. Begrüßung; Frage; Antwort; Adieu; Der Nächste, bitte. Ein Kommissar an Krückstöcken konnte seine Betriebstemperatur kaum erwärmen. Ein Polizist? Ein Schneemann? Ein Clown? Alles war ihm recht und gleichermaßen egal. Die Krücken und die Behinderung seines Kunden? Nicht bemerkenswert. Im Spital sind die Kranken normal, und wer am stärksten zerfetzt ist, ist König der Patienten.
Baumer überlegte einen Moment, ob er sich über das Phlegma des Portiers ärgern solle, aber er entschied rasch, dass der Mann seine Arbeit ganz korrekt machte. »Ich brauche eine Auskunft«, nahm er das Gespräch mit dem Angestellten auf.
Der erwiderte nichts, aber nickte mit dem Kopf genau einen Mikrometer weit. Wahrscheinlich würde er diese automatische Bewegung auch ausführen, wenn er fernsah und die Tagesschausprecherin ihn und alle Zuschauer begrüßte.
»Eine Zimmernummer«, fügte Baumer an.
Wiederum nickte der Portier, ohne ein Wort zu sagen. Zwei Mikrometer dieses Mal.
Baumer kam sich plötzlich unheimlich dumm vor. Was für einen Müll redete er auch mit diesem Mann, dessen Gesichtszüge so starr waren, wie die einer ägyptischen Mumie im Basler Antikenmuseum. Natürlich wusste der Portier schon längst, was der Kunde von ihm wollte. Dasselbe, was alle wollten. Eine Auskunft über die Zimmernummer einer Person, die hier einquartiert war. Und die würde dieser Automat von sich geben, und sonst nichts. Erklärungen waren also völlig unnötig.
Also fragte Baumer den Portier nach den alten Frauen aus dem Telefonbüchlein von der ermordeten Helen Amadio, das er aus der Innentasche seiner Jacke klaubte. »Rüdiger, Sophia«, las er den ersten Namen vor, der ihm bei seiner Recherche aufgefallen war.
Sofort setzte sich der Mann hinter der Scheibe in seinen Drehstuhl und begann auf einer Tastatur auf dem Tischbrett vor ihm herumzuhacken. Die Tasten klackten ein Dutzend Mal. Dann war »Ruediger, So« als einziger Eintrag im
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