Schwelbrand
möchte Ihren Pass sehen«, sagte Lüder.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Personalausweis«, korrigierte er und bekundete damit, dass er Deutscher war. »Nein. Den zeige ich Ihnen nicht.«
»Schön«, sagte Lüder, der die Angelegenheit an diesem Ort nicht eskalieren lassen wollte. »Wir werden andere Maßnahmen einleiten.«
»Soll das eine Drohung sein?«, fragte der Mann und gab selbst die Antwort: »›Aug um Aug, Zahn um Zahn.‹ So steht es doch in Ihrer Bibel. Oder?«
»Unser Gesetz ist keine Bibel. Und dem Recht unterliegen alle«, erwiderte Lüder.
»Das Recht schützt aber auch unschuldige Bürger«, ließ sich der Mann nicht beirren und stand auf.
»Herr Kayacik möchte, dass Sie gehen«, sagte er. Es war eine eindeutige Geste, denn der Wohnungsinhaber war dem ganzen Gespräch stumm gefolgt. Lüder war sich sicher, dass er kein Wort von dem Dialog verstanden hatte, lediglich dass es sich um seinen Sohn handelte.
Große Jäger stellte sich vor den Mann mit dem dunklen Anzug.
»Ich möchte Sie genau ansehen«, sagte er, »damit ich mich bei unserer nächsten Begegnung auf andere Dinge konzentrieren kann.«
»Soll das eine Drohung sein?« In der Stimme des Mannes lag etwas Lauerndes.
»Empfinden Sie die Arbeit der Polizei in einem Mordfall als Drohung? Dann werden Sie wenig Ruhe in der nächsten Zeit haben«, sagte Große Jäger und trat ganz dicht an den bullig wirkenden Mann heran, der jedoch nicht zurückwich.
»Sie sollten darauf achtgeben, dass nicht mehr Menschen um Leib und Leben fürchten müssen«, sagte sein Gegenüber.
Lüder machte einen schnellen Schritt nach vorn, packte Große Jäger am Ärmel und zog ihn mit einem kräftigen Ruck davon. Es galt, trotz aller Provokation Ruhe zu bewahren und mögliche unbedachte Schritte zu vermeiden.
»Wir werden ein formelles Ermittlungsverfahren einleiten«, sagte er. »Paragraf zweihundertachtundfünfzig des Strafgesetzbuches gilt für alle.«
Große Jäger drehte sich noch einmal um und tippte dem Mann auf die Brust. »Das gibt bis zu fünf Jahre Staatspension«, drohte er dem Mann. »Und im Bau gibt es nicht täglich Döner.«
Am Zucken um die Mundwinkel des Mannes sah Lüder, dass es Große Jäger gelungen war, für die Äußerung zum toten Polizisten Revanche zu üben. Er hatte den Mann beleidigt. Lüder war sich nicht sicher, ob es klug war. Andererseits verstand er, dass der Oberkommissar dieses Ventil benötigt hatte.
Wort- und grußlos verließen sie die Wohnung. Zu gern hätte Lüder gewusst, welche Personen sich noch in der Wohnung verborgen hielten. Ob Halil sich versteckte? Eine Durchsuchung hätte aber zu viel Aufhebens gemacht, insbesondere wenn sie in Zimmer eingedrungen wären, in denen sich Frauen aufhielten. Hier galt es, verschiedene Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen. Lüder entschied sich für die Deeskalation.
»Das verstehe ich nicht«, schimpfte Große Jäger. »Das hätte ich dem aus der Nase gezogen, wo sich sein Sohn aufhält. Das kann uns doch auf die Spur der Täter führen. Woher hat der Knabe das Video von dem Mord?«
»Mit Gewalt kommen wir hier nicht weiter«, bemühte sich Lüder, Große Jäger zu beruhigen. »Diese Spur geht uns nicht verloren. Und den Namen des Mannes, der sich so geheimnisvoll gegeben hat, den bekommen wir auch schnell heraus.«
»Ich hätte einen anderen Weg eingeschlagen«, schimpfte der Oberkommissar weiter und beruhigte sich nur langsam, nachdem er in Gesellschaft des Jugendlichen, der auf Lüders BMW achtgegeben hatte, zwei Zigaretten geraucht hatte.
Auf der Rückfahrt zum Landeskriminalamt schimpfte Große Jäger unablässig vor sich hin. Erst in Lüders Büro begann er, sich zu beruhigen.
Lüder rief Dr. Diether von der Rechtsmedizin an. »Das Studium der Medizin dauert länger als das der Juristen. Wissen Sie auch, warum? Weil wir gründlicher sind«, gab der Arzt selbst die Antwort. »Eine einzelne Todesursache lässt sich nicht einwandfrei feststellen. Der baumelnde Körper ist direkt auf die Lokomotive geprallt und –«
»Danke«, unterbrach ihn Lüder. »Wenn Sie mir jetzt die ganze Litanei der multiplen Verletzungen und Einwirkungen herunterbeten, hilft mir das nicht weiter. Ich verspreche Ihnen, Ihren Bericht zu lesen.«
»Haben Sie das Latinum?«, lästerte der Arzt. »Das große? Das kleine? Oder die Spezialausgabe für Juristen?«
»Wenn Sie nicht gleich aufhören, werde ich Ihnen demonstrieren, wie fähig ich als Jurist bin, und Ihnen eine Klage an den Hals
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