Schwelbrand
können wir Ihren Sohn erreichen?«, fragte Lüder.
Ugur Kayacik stand auf. »Ich telefoniere«, sagte er und kam nach zehn Minuten wieder, nachdem sie ihn lautstark auf dem Flur in seiner Muttersprache hatten palavern hören.
Er setzte sich wortlos und sah abwechselnd die beiden Beamten aus seinen dunklen Augen an.
»Was ist nun?«, fragte Große Jäger.
»Geduld«, besänftigte ihn Lüder.
Nach einer guten halben Stunde, die den Oberkommissar immer ungeduldiger werden ließ, klingelte es an der Haustür. Auf dem Flur wurde getuschelt, und kurz darauf öffnete sich die Zimmertür.
Ugur Kayacik sprang auf, verbeugte sich vor dem älteren Mann, der in ein langes traditionelles Gewand gekleidet war und auf dem Kopf eine Art Turban trug. Ein langer grauweißer, zotteliger Bart prägte das Gesicht.
Lüder vermutete, dass es sich um einen Imam handelte, dem Kayacik Respekt erwies. Der Imam wurde von einem bullig wirkenden Mann in einem zu engen dunklen Anzug begleitet, der einen finsteren Eindruck machte. Dazu trug auch der schwarze Bart bei, der den Mann fast bedrohlich erscheinen ließ.
Kayacik deutete erneut eine Verbeugung an und überließ dem Imam den tiefen Sessel, während er für sich und den anderen Besucher Holzstühle aus einem anderen Raum besorgte.
Die beiden Neuankömmlinge schienen die Polizisten zu ignorieren. Sie grüßten nicht einmal mit einem Kopfnicken.
»Was wollen Sie von der Familie Kayacik?«, fragte der Mann im dunklen Anzug.
»Wer sind Sie überhaupt?«, mischte sich Große Jäger ein, bevor Lüder antworten konnte.
»Ein Freund der Familie.«
»Hat der Freund auch einen Namen?«
»Ist der wichtig? Nicht am Namen sollen wir gemessen werden, sondern an unseren Taten.«
»Oh, ein kleiner Philosoph«, lästerte Große Jäger.
Lüder war nicht entgangen, dass es in den Augen des Mannes aufblitzte. Ihm missfiel, dass der Oberkommissar aggressiv vorging. Das war bei Menschen aus dem Kulturkreis, dem sie gegenüberstanden, nicht angebracht. Darum übernahm er schnell die Antwort.
»Wir kommen von der Polizei und haben ein paar Fragen an Halil. Das ist alles.«
»Was werfen Sie Halil vor?«
»Er hat einen Film auf einer Internetplattform eingestellt. Wir möchten wissen, von wem er den Film erhalten hat.«
»Was für einen Film?« Plötzlich unterbrach sich der Mann, beugte sich zum Imam und erklärte etwas leise und in einer ganz anderen Tonlage auf Türkisch.
Der Imam hörte aufmerksam zu und nickte bedächtig, ohne zu antworten.
Als der Mann sich wieder Lüder zuwandte, antwortete der: »Es geht um eine schwere Straftat.«
»Die werfen Sie Halil vor?«
»Das müssen wir prüfen.«
»Was für eine Tat?«
»Mord an einem Polizisten.«
»Und das wurde gefilmt?«
»Ja.«
»Ist Halil auf dem Film zu sehen?«
»Nein«, musste Lüder eingestehen. »Wenn der Junge aber im Besitz des Videos ist, müssen wir wissen, woher er es hat. Das könnten die Täter sein.«
»Das ist Ihre Vermutung. Halil hat den Mann nicht getötet.«
»Er gilt als wichtiger Zeuge.«
»Ich versichere Ihnen, dass Halil damit nichts zu tun hat. Ihr Mord ist nicht unsere Sache.«
»Hör mal zu, du Rechtsgelehrter«, fuhr Große Jäger dazwischen, ohne dass Lüder ihn stoppen konnte. »Es geht um einen brutalen Mord an einem Kollegen. Wir erfahren augenblicklich, wo sich Halil aufhält, damit wir ihn befragen können, oder hier geht die Post ab.«
Der Mann ließ sich nicht beeindrucken. Er neigte sich wieder zum Imam und sagte etwas auf Türkisch.
»Was will der hier?«, fragte Große Jäger leise zu Lüder gewandt.
»Ein Imam ist nicht nur der Vorbeter in der Moschee, sondern vertritt auch als Quasi-Diplomat den türkischen Staatsislam. Sie unterstehen den Attachés für religiöse Dienste der türkischen Generalkonsulate. Meistens verstehen sie weder die Sprache ihres Gastlandes noch deren Kultur oder Gepflogenheiten. Dafür sind sie aber diplomierte Religionsgelehrte und genießen in allen Lebenslagen hohen Respekt und Anerkennung und werden um ihren verbindlichen Rat gefragt. Wie in diesem Fall.«
Der Imam hatte etwas geantwortet.
»Wir bedauern, wenn eine Bluttat geschehen ist, auch wenn es ein Polizist war«, sagte der Mann.
Nur mit Mühe konnte Lüder den Oberkommissar zurückhalten. Natürlich hatte auch er die Provokation vernommen, die sich durch die Betonung und die Körperhaltung des Mannes ausdrückte. »… auch wenn es ein Polizist war.« Darin lag ungemein viel Verachtung.
»Ich
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