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Schwemmholz

Schwemmholz

Titel: Schwemmholz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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mit Schwiegermutter und Apfelkuchen. Schweigend übergoss sie die Teeblätter mit kochendem Wasser. Aus dem Vorratsraum holte sie zwei Orangen, um Saft für Georgie zu pressen. In ihrem Rücken glaubte sie einen Blick zu spüren.
    »Wenn wir gerade unter uns sind«, hörte sie Ellinor Welf sagen. Da war es ja schon. »Ich habe neulich im Kulturforum eine ganz reizende Dame kennen gelernt, und stell dir vor, es kam heraus, dass wir beide ein mongoloides Enkelkind haben  – ach, entschuldige, du magst diesen Ausdruck ja nicht, aber die Dame hat ihn auch benützt, und sie hat mir erzählt, dass ihre Tochter jetzt ein zweites Kind bekommen hat, und es ist ganz gesund und normal . . .«
    Im Wohnzimmer juchzte Georgie. Es klang, als werfe er gerade einen Stapel Klötze um. Marie-Luise hatte die Schublade für das Besteck geöffnet, um ein Obstmesser herauszuholen.
    »Ja, und wenn ich dir das so sagen darf«, fuhr die Stimme unerbittlich fort, »eine zweite Schwangerschaft würde dir nur gut tun, auch hormonell, glaube mir. Du siehst sehr abgespannt aus in letzter Zeit, irgendwie stumpf, entschuldige bitte, wenn ich das so sage, aber es tut mir richtig Leid für dich. Und für Jörg natürlich auch.«
    Marie-Luise starrte das Küchenmesser an. Lieber Gott, dachte sie, warum hab ich nicht die Kraft, eines von diesen Messern da zu nehmen.

     
    Varsalone stand am Fenster und äugte durch die Jalousie, die er ganz leicht angehoben hatte. Der Regen hatte aufgehört, und eine graue Abenddämmerung zog auf. Soviel er sehen konnte, war das Hochwasser nicht zurückgegangen.
    Das bedeutete, dass sie festsaßen. Ärgerlich nahm er die Zigarre aus dem Mund. Es war ein Fehler gewesen, diese Aktion nur zu zweit zu machen. Sie hätten mindestens einen dritten Mann gebraucht. Seit oben in der Familie die jungen Leute in den Mailänder Anzügen und mit dem Diplom von der Business School den Ton angaben, ging das Gefühl für den Beruf langsam aber sicher vor die Hunde.
    Außerdem hatte niemand daran gedacht, dass dieser Pazzo zur Polizei gehören könnte. Varsalone hatte keine Anweisung für einen solchen Fall. Sicher war nur, dass die Familie kaum sehr erfreut sein würde, wenn sie plötzlich sämtliche deutschen Bullen auf dem Hals hätte. Er hätte dringend telefonieren müssen. Aber solange er festsaß, konnte er das nicht. Vermutlich überwachte die Polizei bereits den Funkverkehr.
    In der Küche rumorte die Puttana und wollte ihnen Pasta kochen. Das wird was werden, dachte er und ließ die Jalousie wieder herab.
     
    Tamar fuhr in die Scheune, zog den Zündschlüssel ab und blieb für einen Augenblick im Wagen sitzen. Mit den Fingerspitzen massierte sie sich kurz die Schläfen, dann stieg sie aus, schloss das Tor und ging ins Haus.
    In der Küche saßen die beiden Alten. »Das ist schön, dass du kommst«, sagte das Tantchen, »wir haben Kartoffelpuffer und Apfelmus«, und Tamar hörte sich zu ihrer Verwunderung sagen, dass das aber eine Überraschung sei. Trotzdem wolle sie erst zu Hannah. Die sei im Garten, meinte das Tantchen.
    Der Garten hinterm Haus war von einem rostigen Drahtzaun eingegrenzt. Die Beete waren grün überwuchert, dazwischen schob sich das Orange der Ringelblumen. In einer Ecke des Gartens stand, krumm gegen den Westwind gelehnt, ein Birnbaum mit braunfleckigen Blättern. Der Regen hatte aufgehört,
und von Westen her floss das rötliche Licht des Sonnenuntergangs über den Abendhimmel.
    Hannah lehnte an der Hauswand. Tamar trat auf sie zu und küsste sie auf den Mund. Für einen Augenblick verharrten beide.
    »Ein schöner Garten«, sagte Hannah. »Ein Glück, dass unsere beiden Alten sich nicht darauf verstehen. Sonst würden sie ihn umgraben wollen.«
    Tamar betrachtete den Birnbaum. Plötzlich musste sie an ihre Schulzeit denken und an das hoch aufgeschossene Mädchen, das sie damals war, größer als die anderen, stärker auch und täppischer, und die Deutschlehrerin hatte ausgerechnet sie ausgesucht, in der Feier am Ende des Schuljahres ein Gedicht aufzusagen. Ihr fiel nur noch ein Bruchstück ein:
    »Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
    Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
    Und in der goldenen Herbsteszeit
    Leuchtet’s wieder weit und breit . . .«
    »Was ist das?«, fragte Hannah erschrocken.
    »Fontane. Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland. Hab ich in der Schule aufsagen müssen.«
    »Dass es von Fontane ist, weiß ich auch«, sagte Hannah. »Aber die Stimme! Du hast plötzlich

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