Schwemmholz
stand leise auf und griff nach der Pistole. Langsam wurde das angelehnte Tor geöffnet. Eine groß gewachsene Gestalt trat in den Raum. Es war ein Mann, und es schien, als versuche er, mit vorgestrecktem Kopf durch das Halbdunkel zu spähen. Die Katze hob den Kopf und fixierte den Besucher mit smaragdgrünen Augen.
»Guten Abend auch«, sagte der Mann.
»Guten Abend«, antwortete die Frau.
Der Mann näherte sich dem Verkaufstisch. »Sie haben doch selbst gebrannte Obstschnäpse? Ein Geschäftsfreund hat die mir empfohlen.«
Die Frau wies auf das Regal hinter ihr. Der Mann ging um den Tisch herum.
Mist, dachte Berndorf. Ich will in diesem Halbdunkel nicht schießen müssen. Sonst was werd ich treffen. Aber nicht diesen Kerl. Auch die Polizistin war aufgestanden. Ihre Hand tastete nach der Schublade.
»Was ist mit Ihrer Brille?«, fragte der Mann. »Vielleicht habe ich Sie deswegen nicht gleich erkannt. Sie sind doch Vera, Vera Vochezer nicht wahr?«
»Wenn das hier der Vochezer-Hof ist, werd ich es ja wohl sein müssen«, gab sie zurück.
»Ich glaube, wir kennen uns von früher«, sagte der Mann. Auf die Flaschen mit dem Zwetschgenwasser und dem Birnengeist hatte er keinen Blick geworfen. In dem Regal neben Berndorf hatte sich die Katze aufgerichtet. Ihr Fell war gesträubt, und ihr Schwanz schlug mit eckigen, ausladenden Bewegungen.
Der Mann trat einen Schritt auf die Frau zu. Es war Juni, aber er trug Handschuhe.
»Stopp«, sagte Berndorf. »Polizei. Es ist eine Waffe auf Sie gerichtet. Nehmen Sie die Hände hoch. Gehen Sie von der Frau zurück. Gehen Sie langsam.«
Der Mann hatte sich zu Berndorf gewandt. Langsam hob er die Hände und ging zwei Schritte zurück. Dann ließ er die Arme fallen, drehte sich zum Tor und wollte losrennen.
Berndorf griff mit der linken Hand hinter sich und packte seinen Stock. Die Polizistin zerrte an der Schublade, in der ihre Pistole lag. Die Schublade klemmte. Buschig flog etwas durch die Luft. Mit einem gewaltigen Satz hatte sich die Katze von dem Regal gelöst, den flüchtenden Mann angesprungen und sich an seinem linken Oberarm festgekrallt. Für einen Augenblick wurde der Schritt des Mannes unsicher, im Weiterlaufen versuchte er, die Katze von sich zu schleudern. Berndorf stieß mit dem Stock zu.
Der Mann flog nach vorn, als hätte man ihm die Beine weggerissen. Er versuchte noch, den Sturz mit den Händen aufzufangen,
schrie auf, rollte zur Seite und hielt wimmernd die rechte Hand hoch.
Neben seinem Kopf stand die Katze merkwürdig quer und mit hoch gekrümmtem Buckel. Ihr Schwanz zuckte mit kurzen peitschenden Bewegungen.
Wie er da liegt, sieht er noch größer aus, dachte Berndorf. Irgendwo habe ich das schon einmal gelesen.
Der Mann hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht. Aber es war schmerzverzerrt, und bei seinem Sturz hatte er die Brille verloren, sodass man plötzlich sah, dass er eng stehende und ängstliche Augen hatte.
»Ist das dieser Rodek?«, fragte Sylvie Wenger. Sie stand neben ihm und sah auf ihn hinunter, mit einem Blick, der nicht nur neugierig war, sondern auf eine eigentümliche Weise enttäuscht. »Nach dem Fahndungsfoto, das wir von Ihnen bekommen haben, habe ich ihn mir anders vorgestellt.«
»Das ist nicht Rodek«, sagte Berndorf. »Was da liegt, ist der angesehene Architekt und Unternehmer Jörg Welf. Diese Vochezer’schen Obstschnäpse müssen wirklich berühmt sein.« Er lächelte schmallippig. »Herr Welf ist eigens der Schnäpse wegen aus Ulm hierher gekommen. Jedenfalls wird er uns das erzählen. Ganz sicher wird er das tun.« Er begann, Tamars Pistole in seiner Tasche zu verstauen. Dann sah er Sylvie an. »Vielleicht sollten Sie jetzt Ihre Kampfkatze da aufräumen. Und Ihre Kollegen verständigen. Sie sollen ihn in die Chirurgische Ambulanz bringen, damit man sich dort sein Handgelenk ansieht. Es hält nicht viel aus, hat er mir gesagt.«
Mittwoch, 2. Juni
Sie ging die graue Straße entlang. Es war die Straße, die sie schon immer gekannt hatte. Aber diesmal sah sie durch die Häuser hindurch, als wären die Mauern aus Glas. Die Wohnungen waren leer. Es waren keine Menschen darin. Keine, die noch lebten.
Dann brach der Traum ab. Sie wachte mit trockenem Mund auf. Das kam von dem Joint, den sie sich am Abend zuvor gedreht hatte. Das Gras hatte sie von einer Freundin, die auf dem Land eine Kunstgalerie mit philippinischem Silberschmuck und indianischen Wandbehängen betrieb. Der Joint half gegen Kopfweh und war auch
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