Schwemmholz
abgezogen worden. Um den alten Vochezer kümmerte sich sein Sohn Wilhelm und seine Schwiegertochter, eine hübsche dunkelhaarige Frau, die auf Berndorf aber bedrückt und verschüchtert wirkte, als ob sie sich Vorwürfe machen müsse. Vochezers Sohn sah aus, als ob er selbst kein Landwirt mehr sei. Er hatte etwas von der
trachtengewandeten Verbindlichkeit eines Menschen, der es zum Filialleiter der Raiffeisenbank gebracht hat.
Jetzt ist aber Schluss, dachte Berndorf. Was weißt du schon von den Leuten auf dem Land! Eine Krankenschwester mit blauen Porzellanaugen hatte ihm irgendwelche grünlichen Beruhigungstabletten gegeben. Langsam begannen sie zu wirken.
Die Rehkeule war fast gar. Gleich würden sie zum angenehmeren Teil des Abends übergehen, einem Abend mit – wer weiß? – open end, dachte Krauser und spürte ein angenehmes Kribbeln.
»Es sind nur noch zwei Anrufe drauf«, rief Claudia. Krauser eilte wieder an den Laptop.
»Bist du so weit? 22.35 Uhr: Eine weibliche Stimme fragt auf Deutsch: ›Kann ich noch etwas bestellen?‹ Der Teilnehmer zwo: ›Aber ja, Signora.‹ Teilnehmerin eins: ›Dann bitte zweimal Quattro Stagione. Aber mit kräftig Knoblauch.‹ Hast du das?«
»Ja«, sagte Krauser und las vor: »Aber mit kräftig Knoblauch. Hast du das?«
»Aber nein«, rief Claudia. »Nur mit kräftig Knoblauch! Letzter Anruf ist um 23.12 Uhr. Männliche Stimme, Italiener, südlicher Akzent.
Teilnehmer eins: ›Grüß dich‹.
Teilnehmer zwo: ›Ich grüße dich auch.‹
Eins: ›Das Wetter ist noch immer nicht gut bei euch?‹ Mach ein Fragezeichen dazu. Es ist eine Frage.
Zwo: ›Mhm . . .‹«
Krauser hielt inne. »Ja?«
»Nichts«, sagte Claudia und hielt das Band an. »Er sagt: ›Mmh‹. Nichts weiter.« Dann ließ sie das Band wieder weiterlaufen. »Eins sagt jetzt: – schreibst du mit? – ›Toto findet, es riecht nicht gut. Gar nicht gut . . .‹«
»Um Gottes willen!«, schrie Krauser auf. »Die Rehkeule. . .«
Es war heiß. Heiß und trocken. Von der weißen Decke platzte die Farbe ab, Deckenfetzen segelten in weiten Bögen auf ihn herab wie Drachen im Herbst, aber es waren gar keine Drachen. Es waren Moskitos. Die Decke war keine Decke. Die Decke war der Himmel. Ein Himmel, kaum zu ahnen über dem hohen Felsgestein. Berndorf hatte Angst. Er war wieder der kleine Junge, über den sich die Felsen neigen und zusammenstürzen und ihn begraben würden. Er war lebendig begraben in einem Sarg aus Stein, nein, in einem Sarg aus Stahl und Blech, und das Felsgestein drückte den Sarg ein, scharfrandig klappte die Decke, stieß auf ihn nieder, er versuchte zu schreien, aber er brachte keinen Ton heraus.
Vom Fenster her kam graues Zwielicht. Es war noch früh am Morgen. Berndorf erinnerte sich. Er war 58 Jahre alt, und er lag im Krankenhaus.
Sonntag, 18. April
In den Jahren, als es in den Straßenbahnen noch überall die reservierten Sitzplätze für die Kriegsbeschädigten gegeben hatte, unterrichtete an Berndorfs Gymnasium ein einbeiniger Studienrat. Er lief auf zwei Krücken, das heißt, er lief nicht eigentlich, sondern schwang sich mithilfe dieser Krücken und des verbliebenen Beines hurtig die Korridore und zwischen den Bankreihen entlang, das sorgfältig gebügelte leere Hosenbein hochgefaltet und mithilfe einer Sicherheitsnadel unterhalb der Hüfte befestigt. Er unterrichtete Deutsch und Erdkunde, und gefürchtet war er nicht zuletzt deshalb, weil er aus dem Stand heraus mit einer der Krücken zuschlagen konnte, wie denn der ganze Mann überhaupt etwas von einer artistisch anmutenden Geschicklichkeit an sich hatte, so, als fehle ihm das Bein nur der sportlichen Herausforderung wegen.
Als Berndorf diese Erinnerung kam, versuchte er gerade, erstmals ohne Hilfe eines Rollstuhls auf die Toilette zu gelangen. Den linken Fuß angezogen, hing er wie ein nasser Mehlsack
an den Krücken, mühsam um sein Gleichgewicht kämpfend. Eine Krankengymnastin hatte ihm erklärt, wie er gehen müsse; der verletzte Fuß sollte mit den Krücken schwingen, so hatte sie gesagt, aber mit zwei gesunden Füßen sagt sich das leicht. Schließlich schaffte er es, und als Barbara eine Stunde später kam, konnte er bereits recht gewandt mit ihr in die Cafeteria hinken. Das Bein legte er auf einen freien Stuhl. In zwei oder drei Tagen würde er das Krankenhaus verlassen können.
»Ich hol dich ab und bring dich nach Berlin«, sagte Barbara spontan. »Dann kannst du das ganze Ulm hinter dir lassen. Das
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