Schwemmholz
hatte sie in der Küche einen doppelten Espresso getrunken. Als sie über den großen Körper hinwegstieg, der auf dem Küchenboden lag, hatte sie nichts empfunden. Aber sie hätte den Espresso nicht im Wohnzimmer trinken können, nicht mit der nervenkrallenden Furcht, dieses Teil da in der Küche könnte sich hinter ihrem Rücken bewegen und vielleicht aufstehen oder zu ihr gekrochen kommen.
Er sieht noch immer groß aus und schwer, dachte sie, als sie ihn über die Espressotasse hinweg betrachtete. Wenn sie alle ihre Kraft zusammennahm, würde sie ihn vielleicht an den Füßen aus der Wohnung schleppen können. Der Boden in der Küche und im Flur war mit Marmorfliesen ausgelegt, die Blutspuren ließen sich abwaschen. Und draußen? Im Aufzugschacht war ein provisorischer Lastenaufzug eingebaut, aber auf dem Korridor lag noch kein Estrich. Sie würde Plastikplanen unterlegen müssen.
Aber wie sollte sie den Toten im Aufzug verstauen? Rodek war über 1,90 Meter groß gewesen. Dafür war der Aufzug zu klein. Sie würde ihn sozusagen falten müssen, die Füße hochnehmen, falls er nicht vorher steif geworden war.
Sie stellte sich vor, wie sie in dem schwankenden Lastenaufzug nach unten fuhr, Rodeks Beine umklammernd und hochhaltend, und einer von den Armen des Toten würde gegen die Schachtwand baumeln und hängen bleiben und sich verhaken und der Oberkörper käme plötzlich von der abwärts fahrenden Plattform zu ihr hoch . . .
Nein, dachte sie, es geht nicht. Entschlossen stellte sie die Tasse ab, ging zu der neben dem Herd eingebauten Arbeitsplatte und zog die Schublade auf. Einige kleinere Küchenmesser
lagen darin, darunter auch solche mit einer geriffelten Schneide, wie man sie zum Zerteilen von Tomaten braucht. Das taugt alles nichts, dachte sie. Sie würde zu sich nach Hause fahren müssen und aus ihrer Wohnung holen, was sie brauchte.
Zum dritten oder vierten Mal nahm sie den kleinen Handspiegel und hielt ihn unter Rodeks Gesicht. Er beschlug nicht. Sie griff sich ihre Handtasche und verließ die Küche.
Berndorf war am frühen Abend mit der Regionalbahn durch den Regen nach Ulm zurückgefahren. Vochezer hatte ihn zwar noch zum Abendessen eingeladen. Aber das hätte sich schon nicht mehr gehört. In seinem Briefkasten fand er zwischen den Werbeprospekten einen Brief, der nach Behörde aussah. Er steckte ihn in seine Jackentasche und ging in seine Wohnung. Der Anrufbeantworter flimmerte grün, es hatte also niemand angerufen. Er legte Hut und Mantel ab, zog sich die Schuhe aus und holte sich eine Flasche Mineralwasser. Dann ließ er sich vorsichtig auf die Couch in seinem Wohnzimmer nieder und legte sein linkes Bein hoch.
Das alles war doch noch ein bisschen viel gewesen. Und gebracht hat es wenig. Aber was war dabei, einen alten Bauern zu besuchen und sich von ihm dessen Obstgärten zeigen zu lassen? Für einen Invaliden wie ihn gab es schlechtere Möglichkeiten, den Tag zu verbringen. Er zog den Brief hervor und riss ihn auf.
Der Inhalt war kurz und bündig. Ministerialdirektor Rentz, Personalchef des Innenministeriums, bestätigte den Erhalt von Berndorfs Antrag auf Versetzung in den Ruhestand und bat ihn, am Montag, 31. Mai, bei ihm vorzusprechen.
Berndorf schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein. Dass ihn Rentz wegen seines Antrags sprechen wollte, war ungefähr so wahrscheinlich wie ein Eingeständnis der Landesregierung, die Polizisten müssten zu viele Überstunden machen.
Irgendetwas ist faul, dachte er.
Das Telefon meldete sich. Berndorf verschüttete fast das
Mineralwasser, so schnell stellte er das Glas ab, um nach dem Hörer zu greifen. Es war Barbara. »Irgendwie wusste ich, dass du jetzt da bist«, sagte sie.
Als Erstes hatte sich Judith in ihrer Wohnung umgezogen. Rock und Bluse, zerrissen und blutverschmiert, steckten inzwischen in einer Plastiktüte. Bald, sehr bald würde sie das Zeug los sein. Sie zog sich einen Overall an und die Gummistiefel, die sie trug, wenn sie auf einer Baustelle etwas nachsehen musste. Dann ging sie auf ihren Balkon und leerte die Plastikwanne aus, die sie dort aufgestellt hatte, um Regenwasser für ihre Zimmerpflanzen zu sammeln. Sie legte die Plastiktüte in die Wanne und fuhr nach unten in den Keller. Niemand begegnete ihr. Es war Freitagabend, die meisten Mitbewohner waren ins Wochenende gefahren oder downtown.
In ihrem Keller, wo sie ihr Handwerkszeug aufbewahrte, wählte sie ein kleines Handbeil und eine Spannsäge aus und packte sie neben
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