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Schwert und Laute

Schwert und Laute

Titel: Schwert und Laute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
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er.
    Sein Blick verdüsterte sich. Er verzog das Gesicht und rieb sich die Augen. Ich bemerkte die schwarzen Ränder unter seinen Fingernägeln, und mir wurde das Herz schwer. Mein Bruder war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hatte sich von der Welt abgewandt, lebte in seinem persönlichen Fegefeuer und wartete darauf, dass Gott über ihn entschied.
    »Du bist wahrscheinlich nicht besonders stolz auf mich, kleine Schwester«, erklärte er verbittert.
    »Ich verurteile dich nicht, Matthew.«
    »Ich schon! Ich ertrage mein eigenes Spiegelbild nicht mehr.«
    Er rieb sich seinen Stumpf, runzelte die Stirn und schlug die goldbraunen Augen zu mir auf.
    »Dieses elende Leben! Was habe ich denn noch zu erhoffen, he? Hatte ich dir erzählt, dass ich Arzt werden wollte, vorher?«
    »Nein«, antwortete ich und verbarg meine Überraschung nicht.
    »Ein einarmiger Arzt...«
    Er stieß ein krächzendes Lachen aus. Der Alkoholmissbrauch hatte seine Stimme verändert.
    »Du könntest doch viele andere Dinge tun, Matthew. Du hast immer noch deine rechte Hand, und du hast das Glück, lesen und schreiben zu können...«
    Er warf mir einen düsteren Blick zu.

    »Sieh mich genau an, kleine Schwester. Schau mich an und sag mir, wer Wert auf das legen würde, was du siehst.«
    In der Tat, der übellaunige Fremde mit dem eingefallenen Gesicht, der schwankend vor mir saß, hatte nichts Einnehmendes. Aber ich kannte Matthew, den Bruder aus unseren glücklichen Tagen.
    »Du musst dich zusammennehmen, Matt. Du darfst dich nicht so gehen lassen...«
    Ich unterbrach mich, als ich mir plötzlich meiner eigenen Niedergeschlagenheit bewusst wurde. Jetzt begriff ich, warum Vater so darauf gedrängt hatte, dass ich meinen Bruder traf. Er wollte, dass ich sah, was geschah, wenn die Verzweiflung sich eines Menschen bemächtigte und seinen Körper langsam, aber sicher zerstörte. Dass ich den erloschenen Blick eines Menschen sah, der keine Lust mehr hatte, weiterzuatmen. Ein Leben, auf ein Nichts geschrumpft, auf einen Krug voller Gift, das langsam das Blut, das durch die Adern floss, ersetzte. Ich schloss die Augen und holte tief Luft.
    »Matthew, ich sehe einen Mann vor mir, der noch ein Leben vor sich hat, wenn er nur bereit ist, seine Möglichkeiten zu ergreifen. Sicher, Gott hat dir eine Hand genommen, aber du hast noch so vieles...«
    »Ich bin kein Mann mehr, Kitty!«, jammerte er. »Ich kann nicht mehr kämpfen wie ein Mann, und die Frauen...«
    Seine Züge verhärteten sich zu einer Mischung aus bitterer Enttäuschung und Zorn. Dann entspannte sich sein angewiderter Gesichtsausdruck, und er wedelte mit dem verstümmelten Arm ratlos vor meinem Gesicht herum.
    »Liebe Schwester, dein Mann ist wahrscheinlich im Vollbesitz all seiner Körperteile, und so, wie Vater ihn mir beschrieben hat, könnte er einen Menschen mit einer einzigen Hand töten. Hättest du dir einen Mann ausgesucht, der nur noch die Hälfte seiner selbst ist?«
    Ich überlegte lange, bevor ich antwortete. Wäre Liam in Killiecrankie dasselbe widerfahren, hätte ich mich dann genauso in ihn verliebt? Eine Hand weniger... was hätte ich davon gehalten?
    »Es gibt mehrere Arten, einen Mann zu beurteilen«, begann
ich. »Man kann ihn nach seiner Körperkraft und nach seinem Geschick im Kampf beurteilen, nach seinem Vermögen und nach seiner Macht in der Welt.«
    Ich nahm seine verbliebene Hand und streichelte ihm zärtlich über die Handfläche.
    »Aber man kann ihn auch an seiner Charakterstärke messen«, fuhr ich fort, »an seiner Entschlossenheit und an seinem guten Herzen. Die Entscheidung, woran du dich messen lassen möchtest, liegt bei dir, mein Bruder. Für mich sind es die letzten drei Eigenschaften, die mich bewogen haben, Liam zu wählen.«
    Er sah mich an und zog die Augen zusammen, während er über meine Antwort nachdachte. Seine Finger schlossen sich um meine.
    »Ich habe gesehen, mit welchem Blick die Frauen mich anschauen, Kitty. Das tut mir weh. Ich weiß, was sie empfinden. Ich stoße sie ab.«
    »Matthew, das, was sie abschreckt, ist nicht der Umstand, dass dir eine Hand fehlt. Glaubst du vielleicht, dass du der einzige Einarmige in Schottland bist? Wirf den Whiskybecher weg... Du bist sehr anziehend, wenn du einen klaren Blick und ein strahlendes Lächeln hast. Erinnerst du dich noch an Molly und Isobel? Die beiden haben richtig für dich geschwärmt.«
    Er lächelte traurig, als ich die zwei Fitzpatrick-Schwestern erwähnte, die in Belfast um ihn

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