Schwerter und Rosen
Männer und Frauen des Landes waren zu dem Krönungsbankett im Tower geladen. Alle anderen hielten es wie die Wachen, die entlang der Südmauer ein großes Feuer entzündet hatten, um das sie sich versammelten, um Met und Bier in sich hineinzuschütten. Auch vor den starken Mauern der Festung brodelte die Stadt – und es wurde getanzt, gesungen, gezecht und gehurt. Während sie ihre Augen über die spitzen Dächer gleiten ließ, fiel ihr plötzlich ein unheimlicher Schein am Horizont auf, der nicht nur von Fackeln und Freudenfeuern herzurühren schien. Was ging dort vor? Neugierig geworden, warf sie sich einen taubengrauen Umhang um und entriegelte das bunt verglaste Fenster, um in die Dunkelheit zu lauschen. Zuerst konnte sie die unterschiedlichen Geräusche nicht auseinanderhalten, doch nachdem sie einige Herzschläge lang konzentriert zugehört hatte, konnte sie deutlich Rufe und heiseres Geschrei ausmachen. Entsetzt erkannte sie, dass es sich bei den Schreien, die vom Themse-Ufer her an ihr Ohr drangen, nicht um Freudenschreie, sondern um das schrille Flehen von Menschen in Todesangst handelte.
»Tod den Juden! Tod den Juden! Tod den Juden!«, erscholl ein Sprechchor gemischt aus tiefen, kehligen Männerstimmen und den hysterischen Obertönen aufgebrachter Frauen, bevor kurz darauf ein Strom fliehender Menschen die Uferbefestigung entlang auf den Tower zufloss. Aus dem Schlaf gerissen, trugen viele von ihnen nicht mehr als dünne Nachtgewänder, manche der Frauen waren gar barbusig und hielten Säuglinge an der Brust. »Helft uns!« Halb verrückt vor Angst, hämmerten die Vordersten die Fäuste gegen die mächtigen Tore der normannischen Festung, während die Flut der fackeltragenden Verfolger immer näher kam und sie mehr und mehr in die Enge trieb. »Verzieht euch!«, brüllte einer der Wachmänner und lachte meckernd. »Geht zum Teufel, wo ihr hingehört!« »Bitte!«, flehte ein junges Mädchen in der Mitte der Menge. Ihr offenes Haar hing bis zu ihrer Hüfte, an der sich ein Kleinkind festklammerte. »Wir haben nichts getan!« Bevor die Wachen die höhnische Antwort geben konnten, die ihnen zweifelsohne auf der Zunge lag, hatten die erzürnten Verfolger die Fliehenden erreicht und begannen, mit Knüppeln, Schwertern und Äxten auf die wehrlosen Juden einzuhauen. Innerhalb weniger Minuten sanken mehrere Dutzend Menschen blutüberströmt in die Knie, während die Überlebenden verzweifelt um Gnade flehten.
Wie gelähmt verfolgte Catherine das grausame Schauspiel von oben – nicht in der Lage, zu begreifen, was vor sich ging. »Gottesmörder!«, kreischte eine junge Frau, bevor sie mit einem dicken Prügel auf einen etwa fünfjährigen Knaben eindrosch, der nur wenige Augenblicke später zu Boden sank. Entsetzt taumelte das Mädchen von dem den Feuerschein reflektierenden Fenster zurück und stolperte über einen niedrigen Fußschemel. Es spürte kaum den Schmerz, der ihm in die Glieder fuhr, als seine Ellenbogen hart auf den Steinfliesen auftrafen. Das Geschrei vor den Fenstern der Festung schwoll immer mehr an, sodass Catherine sich schließlich zitternd die Hände auf die Ohren presste. Während der Raum begann, sich um sie zu drehen, stieg Übelkeit in ihr auf, und sie kauerte sich zusammen wie ein Kind.
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Ein Stockwerk tiefer – in der schalldichten Abgeschiedenheit der großen Halle – gab sich der Hochadel des Landes in unschuldiger Unwissenheit einem rauschenden Bankett hin. Wahre Heerscharen an Dienern, Pagen und Knappen sorgten für das leibliche Wohl der geladenen Gäste, während eine Gruppe Musikanten für unbeschwerte Hintergrunduntermalung sorgte. Gespickte Wildschweinbraten wetteiferten mit gebratenen Fasanen, Hirschrücken und Lammkoteletts, die in feinen Soßen schwammen. Pasteten, Brot und fette Semmelknödel türmten sich auf silbernen Platten, und wem der Gaumen nach Gemüse stand, den luden kleine Kohlrouladen, geschnitzte Karotten, Kürbismonde und Lauchstangen zum Verzehr ein. Harold, der seit dem frühen Morgen nichts mehr zu sich genommen hatte, lief das Wasser im Munde zusammen, während er mit verkrampften Händen den schweren Weinkrug hielt und den gesenkten Blick über die illustre Gesellschaft wandern ließ. Die Farbenpracht der Prunkgewänder war im hellen Schein der Fackeln beinahe blendend. Und da die meisten der Geladenen die teuren Surkots mit edelsteinbesetzten Fibeln zusammenhielten, funkelte und glitzerte der gesamte Saal. Über all der Prächtigkeit
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