Schwester der Finsternis - 11
die er sehen wollte; viele Soldaten sprangen nur dann auf einen Köder an, wenn er sich ängstlich wand. Als sie das nicht tat, nahm seine Miene einen verdrießlichen Ausdruck an. Er murmelte einen Fluch in ihre Richtung und entfernte sich.
Nicci hielt weiter auf das Zelt des Kaisers zu. Errichtet aus reizlosen Lammfellen ohne jeden Zierrat, waren Nomadenzelte aus Altur’Rang eigentlich eher klein und praktisch. Jagang hatte sie neu erschaffen, weitaus prächtiger als die Originale. Sein eigenes war eher oval als rund, drei Stangen anstelle der gebräuchlichen einen stützten das mehrspitzige Dach. Die Innenwände des Zeltes waren mit freundlich bestickten Stoffstreifen verziert. Der obere Rand der Seitenwände, dort, wo Dach und Wände sich berührten, war zum Beweis, dass man hier den Reisepalast des Kaisers vor sich hatte, mit faustgroßen, vielfarbigen Quasten und Wimpeln behängt. Banner und Fähnchen in leuchtend gelben und roten Farben hingen über dem Zelt schlaff in der abgestandenen, spätnachmittäglichen Luft.
Draußen klopfte eine Frau kleine, über einer der Zeltleinen hängende Teppichbrücken aus. Nicci hob den schweren, mit Goldschilden und getriebenen Rundbildern aus Silber, auf denen Schlachtszenen dargestellt waren, verzierten Türvorhang zur Seite. Drinnen waren Sklaven damit beschäftigt, die riesigen Teppichflächen zu fegen, das zarte Keramikgeschirr abzustauben, das überall auf reich verzierten Möbeln stand, und mit großem Getue die vielen hundert farbigen Kissen zu richten, die den Rand des Fußbodens säumten. Wandbehänge, üppig geschmückt mit traditionellen Mustern aus Altur’Rang, unterteilten den Innenraum in verschiedene Gemächer; oben ließen einige mit gazeähnlichem Stoff verhängte Öffnungen ein wenig Licht herein. Inmitten all des Lärms schufen die schweren Stoffe einen Ort der Stille. Lampen und Kerzen tauchten den ruhigen Raum in ein schummriges Licht.
Nicci erwiderte weder die Blicke der Wachen, die den Eingang auf der Innenseite flankierten, noch die der anderen, mit ihren häuslichen Pflichten beschäftigten Sklaven. In der Mitte des Wohngemaches stand Jagangs überladener, mit roten Seidenstoffen drapierter Sessel. Hier hielt er gelegentlich Audienzen ab, jetzt war der Sessel jedoch leer. Anders als andere Frauen, die Seine Exzellenz zu sich bestellt hatte, zögerte sie nicht, sondern näherte sich entschlossenen Schritts seinem Schlafgemach im rückwärtigen Teil.
Einer der Sklaven, ein beinahe nackter, dem Aussehen nach fast zwanzigjähriger Junge, war auf Händen und Knien liegend damit beschäftigt, den vor dem Eingang zum Schlafgemach ausgebreiteten Teppich mit einem kleinen Kleiderbesen abzubürsten. Ohne Nicci in die Augen zu sehen, richtete er ihr aus, dass Seine Exzellenz sich nicht in seinen Zelten aufhalte. Der junge Mann, Irvin, besaß die Gabe. Er hatte im Palast der Propheten gelebt, wo man ihn zum Zauberer ausgebildet hatte. Jetzt pflegte er die Teppichfransen und leerte Bettgeschirre. Niccis Mutter wäre stolz auf ihn gewesen.
Jagang konnte sich an den verschiedensten Orten aufhalten; er konnte fortgegangen sein, um mit seinen Soldaten zu trinken und zu spielen, er konnte seine Truppen inspizieren oder die Handwerker, die ihnen zur Verfügung standen. Vielleicht nahm er die frischen Gefangenen in Augenschein und wählte jene aus, die er für sich selbst beanspruchte; möglicherweise unterhielt er sich auch gerade mit Kardeefs Stellvertreter.
Nicci sah mehrere Schwestern in einer Ecke kauern. Wie sie selbst, so waren auch sie Jagangs Sklavinnen. Als sie sich den drei Frauen näherte, fiel ihr auf, dass sie mit Nähen beschäftigt waren und ein Stück der Zeltausrüstung flickten.
»Schwester Nicci!« Schwester Georgia sprang auf, und ein Ausdruck der Erleichterung ging über ihr Gesicht. »Wir wussten nicht, ob Ihr lebendig seid oder tot, so lange haben wir Euch nicht gesehen. Wir dachten, Ihr wärt vielleicht untergetaucht.«
Da Nicci eine Schwester der Finsternis war und dem Hüter der Unterwelt verschworen, empfand sie die Besorgnis dreier Schwestern des Lichts als ein wenig unaufrichtig. Nicci vermutete, dass sie ihre Gefangenschaft als etwas Verbindendes und ihre diesbezüglichen Gefühle als höher stehend betrachteten, so dass sie ihre grundlegenderen Streitereien überwanden. Außerdem wussten sie, dass Jagang anders mit ihr umsprang; wahrscheinlich waren sie geradezu versessen darauf, dass man sie für freundlich hielt.
»Ich war
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