Schwestern der Angst - Roman
sich, als die Kleine sich mühte, das Beste zu geben. Marie tat auch mir leid – sie wollte mich überbieten und nun strauchelte sie wie ein Dieb, ein Sträfling im gestreiften Anzug, angekettet durch die Bleikugel meiner Missgunst. Ich lächelte milde und bemerkte erst am Gelächter, dass Marie nicht strauchelte, sondern meine Figuren parodierte. Die Pirouette geriet zu einem Schraubverschluss und die Schwalbe zum Gewatschle eines Pinguins. Ich war die Meisterin und Marie war die größere Meisterin. Sie stürzte, ohne wirklich zu stürzen, sie flog übers Eis, ohne zu fliegen, als hinge sie an Fäden, die sie in Schwebe hielten. Durch ihre Tollpatschigkeit trat erst ihre Eleganz zutage. Außerdem stand ihr das Trikot ausgezeichnet, denn das strenge Streifenmuster des Stoffes konterkarierte die hüftschwingende makellose Gestalt der mir über den Kopf wachsenden Schwester, zu der ich das erste Mal aufzublicken hatte, als sie mich in Eislaufschuhen um ein paar Zentimeter überragte. Vater war von der Schönheit seiner leiblichen Tochter gerührt. Mein Magen zwickte und brannte, als ich den Glanz der Begeisterung in seinen Augen sah. Mir war heiß, als hätte ich glühende Kohlen geschluckt. Am liebsten wäre ich durchs Eis hindurchgeschmolzen und abgezischt.
Ich schämte mich für mein Kleid, meinen Tanz, meine Existenz. Ich stank für meine Nase und war zerquetschbar wie Ungeziefer. Am liebsten hätte ich mich selbst ausgemerzt.
In jenem Winter wuchs ich zu meiner Endgröße heran. Ich erinnere mich an die wöchentliche Ausmusterung meines Gewandes. Ich brauchte nun außerdem Frauenunterwäsche und Hygieneartikel. Es ekelte mich an, die körperliche Veränderung zulassen zu müssen. Das einzige, was ich beeinflussen konnte, war die Nahrungsaufnahme. Ich hungerte oder gab mich ungezügelten Fressattacken hin.
Ich ging in die Waschküche und fischte den zum Trikot umgeschneiderten Pyjama aus der Schmutzwäsche. Dann zog ich ihn an. Ich war zu fett. Ich legte ihn auf, kniete mich hin, hielt ihn in meinen Armen. Wie eine Pietà saß ich mit dem blauen Pyjama da und nahm Abschied von ihm, trauerte um Großmutter, Kindheit, Heim, meine Liebe zu Marie. Ich hatte diesen Pyjama gern gehabt. Seine Farbe und das Material. Ich hatte ihn geschändet, vernäht und Marie hatte ihn missbraucht. Ich griff nach der Schere und zerschnitt ihn, stopfte alles in den Müll.
Einige Wochen später verriet sich Maries Durchtriebenheit. Sie hatte die Überreste des Pyjamas gefunden. Sie lief im Torso herum und fand es geil, in diesem Outfit Fahrrad zu fahren.
Marie hatte mich aus dem einst gemeinsamen Schlafzimmer gestoßen. Ihre Zensuren in der Schule wurden schlechter. Ich bestand auf Bleiberecht in ihrem Zimmer. Wenn ich mich nicht gekümmert und auf meinen Schulabschluss verzichtet hätte, wer weiß, was aus ihr geworden wäre. Je größer, besser und beliebter Marie ward, umso mehr war ich dahinter, und gleichzeitig wurde ich umso ohnmächtiger.
Als Marie zwölf Jahre alt wurde, warf sie mir vor, sie ausgebeutet und unterdrückt zu haben. Sie bezeichnete mich als ihre Sklaventreiberin. Sie war zur Verräterin unserer geheimen Blutsschwesternschaft geworden. Sie trieb sich herum und ich verbrachte nun wieder schlaflose Nächte. Ich wartete nachts auf sie, blieb aus Übermüdung sitzen. Einmal würde sie ja nach Hause zurückfinden müssen.
Ich hatte Angst um das Mädchen wie meine Ahninnen einst um mich. War Marie nicht in meiner Nähe, breitete sich eine Leere aus, die nach mir griff und mich verschluckte. Marie dankte mir meine Sorgen um sie mit den Worten: „Fixiert sein ist irre.“
Aber weil ich auf sie wartete, in diesem Vakuum, lebt sie noch heute. Ich saß am 6. Mai 1976 um 20 Uhr im Wohnzimmer unter dem Luster. Ich schlichtete die Kassenbons; Vater war unterwegs. Er führte eine frisch geschiedene Griechin, die bei uns im Pensionszimmer wohnte, durch die Naturschönheiten unseres Gebietes. Der Name des Berges, auf den Vater sie begleitete, lautet im Volksmund „Theben“. Die Griechin ist in meinem Gedächtnis so frisch erhalten, weil es der erste Abend war, an dem Vater mit seiner neuen Frau ausging. Er nannte sie seine Sommergästin. Diese Frau blieb für den Rest seines Lebens bei ihm. Sie hatte sich schon zu Saisonbeginn im April einquartiert, als unser Eissalon geöffnet wurde. Sie hatte Arbeit als Putzfrau gesucht. Sie war ausgebildete Friseuse und besaß extrem scharfe Scheren. Die Lockenwickler steckten den Tag
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