Schwiegertöchter (German Edition)
Leinwände. Er hatte zunächst angefangen zu zeichnen – eine Brandseeschwalbe im Flug, wobei er besonderes Augenmerk auf die Federn legte, die bei ausgebreiteten Schwingen zu sehen waren –, sich aber nicht richtig konzentrieren können. So ließ er seine Staffelei und die Bleistiftsammlung, die er in einem alten Senftopf aus Steingut aufbewahrte, stehen und stieg auf eine Trittleiter, um die Stapel alter Leinwände von ihrem Lager auf den Dachbalken runterzuhieven und zu sehen, welche er davon noch mal verwenden oder für seine Studenten mit ins College nehmen konnte. Es war nur noch eine knappe Woche bis zum Beginn des Trimesters, und Anthony sehnte sich fast hilflos nach der geringfügigen Struktur, die der Unterricht seinem Leben gab, nach der beruhigenden Vertrautheit eines neuen Grundkurses. Dessen sämtliche Teilnehmer waren stets in die Werke von Jackson Pollock und Mark Rothko verliebt und sahen keinen Sinn oder Gewinn darin, etwa eine Szene vom Vogelhäuschen bei ihrer Großmutter zu zeichnen. Anthony dachte selbst an ihren Spott und Widerstand mit zufriedener Vorfreude.
Er holte zwei der Stapel herunter, pustete den gröbsten Staub weg und inspizierte die zahllosen Zeichnungen und Gemälde aus vielen, vielen Jahren von Eulen und Enten, Störchen, Schwänen und Gänsen, von einem Steinadler, der auf einem Felsen landet (das war ein herrlicher Urlaub in den westlichen Highlands gewesen), von Möwen und Kiebitzen und einer Wasseramsel, die so selbstverständlich schwamm und tauchte wie ein Pinguin. Er verharrte bei einem Bild von einer Gruppe Dreizehenmöwen, die im Sturzflug platschend in einen See eintauchten, und fand, es sei eigentlich gut und ansprechend genug, um noch etwas damit zu machen, anstatt es auf den Dachbalken vermodern zu lassen. Mit dem Bild in der einen Hand und einigen Reiherskizzen auf dickem grobem Büttenpapier in der anderen stand er da, als draußen vor dem Atelier plötzlich Kies knirschte, als würde jemand hastig darüberstolpern, und dann flog die Tür auf und Kit stürmte schwer atmend herein.
»Grandpa!«
Anthony ließ beide Bilder zu Boden fallen. Er ging in die Knie und breitete die Arme aus.
»Kit!«
Kit rannte zu ihm. Er schlang die Arme um Anthonys Hals, drückte ihn und plapperte ihm ins Ohr. Dann knirschte wieder Kies, und Petra erschien mit Barney auf dem Arm. Sie trat durch die Tür und blieb gleich dahinter stehen und sah Anthony an. Sie sagte nichts.
Anthony löste Kits Arme und stand auf. Kit klammerte sich an seine Hosenbeine und erzählte weiter. Barney bemerkte seinen Großvater und lehnte sich quietschend in Petras Armen vor.
Anthony fragte: »Was machst du hier?«
Petra rückte Barney auf ihrem Arm zurecht. Sie trug Jeans und ein loses, indisch anmutendes Hemdchen aus einem dünnen grünen, mit Spiegeln bestickten Stoff. Ihre nackten Füße steckten in Sneakers, deren Spitzen bereits Löcher aufwiesen.
»Ich wollte dich sehen«, sagte Petra.
Sie bückte sich und setzte Barney auf dem Boden ab. Er kroch sofort auf seinen Großvater zu.
»Vorsicht«, warnte Anthony. »Da könnten Reißzwecken rumliegen.«
»Ich suche sie!«, rief Kit. »Ich suche sie! Ich suche sie!«
Anthony ging wieder in die Knie.
»Ich habe alte Bilder sortiert. Dabei könnten welche rausgefallen sein, von den Zeichnungen, die auf Bretter gepinnt waren.«
Petra trat ein paar Schritte näher. »Wir suchen alle mit.«
Sie kniete sich ebenfalls auf den Boden.
»Ich weiß nicht, ob ich dir irgendwas zu sagen habe«, meinte Anthony.
Petra entdeckte eine Reißzwecke und langte nach oben, um sie auf eine Tischkante zu legen.
»Okay.«
»Okay?«
»Das hatte ich auch nicht erwartet«, sagte Petra.
»Warum bist du dann gekommen?«
Petra fasste nach Barneys Hand, um ihm einige nicht näher zu identifizierende Objekte wegzunehmen.
»Du bist gut zu mir gewesen. Immer. Das wollte ich dir nur sagen.«
»Hab eine gefunden!«, rief Kit aufgeregt.
Anthony wandte sich ab, so dass er sie nicht mehr sehen konnte.
»Das denke ich auch. Deshalb – ist es so schwer zu verstehen, was du tust …«
»Ich tue nichts gegen dich.«
»Ralph ist mein Sohn. Er ist verletzt. Ich bin verletzt.«
Petra hockte sich auf die Fersen. »Das verstehe ich.«
»Dann verstehst du vielleicht auch, dass ich dich nicht sehen will.«
Kit ging zu Anthony und präsentierte ihm zwei Reißzwecken.
»Danke«, sagte Anthony. Er war ziemlich aufgewühlt und legte eine Hand über die Augen.
»Weinst du?«,
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