Schwindlerinnen: Roman (German Edition)
aus dem Flachmann in der Tasche ihres Pelzes genehmigt. Als die beiden im Schneegestöber von dannen zogen, gestikulierte sie wie ein kampfbereiter Taschenkrebs.
Lillemor legt das Manuskript zusammen,
schließt die Augen und rutscht auf dem Kissen, das sie im Bett als Rückenstütze benutzt hat, nach unten. Im Liegen versucht sie sich nun zu entsinnen, wie es wirklich war. An das Schneegestöber, das ihr die Frisur zu zerstören drohte. Ansonsten aber scheint dieses Ereignis wie weggewischt. Nur Fragmente sind noch da. Sie hört die Orden des alten Sekretärs klimpern, als sie ihm in den Mantel hilft, und wie er den Stock fallen lässt, als er in den großen Wagen von Freys Limousinenservice einsteigen will. Ja, an den Stock erinnert sie sich und an die Glätte und die Todesahnungen, begreift aber, dass es Erinnerungen an einen späteren zwanzigsten Dezember waren. Die wenigen Jahre, die er noch zu leben hatte, fuhren sie immer im selben Wagen, damit sie ihm behilflich sein konnte.
Ihr Eintritt in die Akademie scheint wie weggebrannt. Die Fragmente können auch aus irgendeinem anderen Jahr stammen. Klickende Kameras. Ein großer Stearinfleck auf der hellblauen blassen Seide. Sie erinnert sich an einen alten Dichter, der den Königlichen Preis erhalten hatte und nach dem Diner volltrunken und überglücklich auf dem Steinfußboden im Treppenhaus zusammenbrach.
Babba hat sich des Ereignisses von Lillemors Eintritt in die Akademie bedient und daraus eine Geschichte gemacht. Lillemor erkennt einige Teile, aus der sie zusammengesetzt ist. Die Joggingschuhe waren keineswegs Bestandteil einer Jahresfeier, sondern des Jubiläums zum hundertjährigen Bestehen der Schwedischen Literaturgesellschaft in Finnland. Damals hatte ich Fieber, erinnert sie sich, und fror dermaßen, dass ich einen dunkelblauen Wollschlüpfer unter dem Abendkleid trug. Am nächsten Morgen war in Helsingin Sanomat ein Foto, auf dem ich mit dem Außenminister tanze und mein plissierter Chiffonrock bei einer Walzerdrehung so schwingt, dass der Schlüpfer zu sehen ist. Zum Glück habe ich ihr das nie erzählt.
Lillemor ist Babbas Erzählung gegenüber machtlos. Wie soll sie sich selbst definieren können, wenn sie weder Babbas Sprache noch ihren narrativen Instinkt besitzt. Meine Sprache ist allgemein, das weiß ich, denkt sie. Es gibt keine »Wirklichkeit«, es gibt keine »Wahrheit«, die nicht von sozialen und logisch folgernden Aspekten und Strategien abhängig wären. Sind diese schwach, verliert man den Kampf um die Macht.
Dominanz ist jedoch etwas, dem wir unsere Zustimmung erteilen, das hat Lillemor wahrhaftig begriffen. Aber nicht, warum. Sie sieht ein, dass Babba und sie niemals Freundinnen waren und dass ihr dies immer bewusst gewesen ist. Aber offensichtlich waren wir nicht mal Partnerinnen, denkt sie. Ich wurde von vorn bis hinten benutzt. Babba hat immer gesagt, meine Mutter habe mich als Spiegel benutzt und sich mit der Ähnlichkeit gebrüstet, die durch meine Jugend und später durch meine soziale Position so wundervoll veredelt worden sei. Babba hat mich aber selbst viele Jahre, ja Jahrzehnte lang als Schaufensterpuppe benutzt, und jetzt benutzt sie mich als Material. Wenn ich aber dagegen protestieren will, fallen meine Einwände lahm aus, da ich, verglichen mit ihr, keine Sprachgewalt besitze. Ich kann doch nicht hergehen und Pflastersteine nach ihr werfen oder ihr Auto in Brand stecken.
Sie war ebenso stark wie dieser käsig wabbelige, kränkliche Diktator in Nordkorea und auch nur wie er zu begreifen – durch seine Erzählung. Er bekam dadurch Macht, dass er die Geschichte seines Volkes erzählte, und diese Erzählung handelte vor allem von dessen Feinden. Hitler hat ebenfalls auf diese Weise erzählt. Was wäre aus ihm geworden, hätte er nicht vor einem Volk, das von seiner eigenen Reinheit und der Unreinheit der jüdischen Rasse überzeugt werden wollte, seinen narrativen Instinkt besessen und die Erzählstrategien beherrscht? Er erzählte nicht die Geschichte, sondern Geschichten über eine manipulative ökonomische Bedrohung des Reiches durch die Juden.
Desgleichen Jesus. Wer wäre er ohne die biblischen Geschichten? Alle diese kleinen sinnreichen Erzählungen aus dem jüdischen Alltagsleben, die am Ende in etwas bis dahin nie Gehörtes münden. Der verlorene Sohn vergeudet alles, kommt arm und ausgehungert heim und wird mit Liebe und Luxus empfangen. Wer hätte dem zugehört, wenn die Botschaft als abstraktes moralisches
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