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Schwindlerinnen: Roman (German Edition)

Schwindlerinnen: Roman (German Edition)

Titel: Schwindlerinnen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Ekman
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regiert der Hunger, und einmal schlich ein Junge durch die Fliederhecke und holte sich den Zwieback, den eine Frau für die Eichhörnchen ausgelegt hatte. Später gab es dann die Schulspeisung, und da gingen die armen Kinder in einer langen Reihe zu einem Extrahaus und aßen Extraessen. Aber sie revanchierten sich dafür, wenn sie zurückkamen und gehänselt wurden, denn dann prügelten sie sich.
    Die Kinder sind Krebsscheren, die mit ihren Nabelsträngen im Schlamm unten auf dem Grund leben. Hoch über ihrem Versteck rauschen der Sozialismus und die Abstinenzbewegung, die Frömmigkeitsbewegung und die Kriege. Die Kinder leben in seichten und stehenden Gewässern, ja in Teichen und Gruben, und sie wähnen sich möglicherweise geschützt, weil ihr wahres Leben nicht zu sehen ist und weil sie so viel wissen: wie sich die Körnigkeit eines verputzten Hauses in der Handfläche anfühlt und wie es klingt, wenn man beim Gärtner die Fuchsienknospen aufknackt. Nur eben von dem, was da oben rauscht, wissen sie nichts, und deshalb können sie aus ihrem lauen Schlamm herausgezogen und erschlagen oder vergast werden. Eigentlich sollen sie ja nach oben treiben und blühen, so wie die Krebsschere nach oben treibt und zu einer starren weißen Wasseraloe wird. Doch am Ende entströmt den ausgeschlagenen Blüten ein übler Geruch, und sie werden wieder auf den Grund sinken und für ihre Brutknospen Halt finden.

Als Lillemor auf die folgenden Seiten linst,
sieht sie, was ihr bevorsteht: der Tod ihres Vaters. Sie möchte ihn vor Babba retten, weiß aber nicht, ob sie es schaffen wird. Geschriebenes ist so stark im Vergleich zu flimmernden Erinnerungen. Ist es stärker als Liebe?
    Vielleicht war er lächerlich mit seinen Kunststoffbooten, denkt sie. In Babbas Augen war er es ganz sicher. Ich kann ihn nicht in Schutz nehmen. Das konnte ich nicht mal gegen Mutter. Aber es gibt etwas, wovon Babba nichts weiß: Er schrieb Gedichte.
    Es ist ihm immer leichtgefallen, Verse zu schreiben. Zu runden Anlässen fabrizierte er Lieder, die zu bekannten Melodien gesungen wurden. Doch das war etwas anderes. Sie war schon längst von zu Hause ausgezogen, als er ihr das erste Gedicht zusteckte. Sie musste versprechen, es nie jemandem zu zeigen oder zu sagen, dass er schrieb. Dieser Jemand war natürlich Mutter. Das Gedicht war eine verschwommene Impression von Kramfors. Unwirkliche Stadt unter eines Wintermorgens braunem Nebel. Füße trampeln des Alltagslebens Pfade. Unsere verwirrten Schritte. Etwas in dieser Art. An ein paar Zeilen erinnert sie sich aus gutem Grund:
    Der Fluss schwitzt
    Öl und Teer
    Das Holz treibt
    mit dem Strom
    Sehr viel später fand sie Karin Boyes Des Baumes wegen , das sie bei den Eltern in Kramfors zu Hause zurückgelassen hatte, und in der Übersetzung von Eliots Das wüste Land standen die Zeilen über den Fluss, der Benzin und Teer schwitzt. Allerdings waren es dort Kähne, die mit Ebbe und Flut trieben. Den braunen Nebel und die unwirkliche Stadt gab es da auch. Sie war natürlich peinlich berührt. Aber sie sagte nichts zu ihm.
    Beim nächsten Gedicht, das er ihr gab, meinte er: »Du weißt, das sind freie Verse. Aber so was kennst du ja.«
    Leider. Aber wer war sie, dass sie über Stümperei urteilte? Babba sagte doch auch immer: Literatur gebiert Literatur. Und war es im Übrigen nicht eher erstaunlich als lächerlich, dass ein Hersteller von Kunststoffkähnen nach Vorlage modernistische Verse schrieb?
    Er starb langsam, gequält und verwirrt. Sein Körper wurde gelblich und ausgemergelt. Das Wundliegen, der Schleim, der Stuhlgang auf dem Laken – das war er. Und das scheue Lächeln war seines, als sie an sein Krankenhausbett kam.
    Einmal noch besaß er genug Kraft, ihren Kopf zwischen seine Hände zu nehmen, als sie sich zu ihm hinunterbeugte. Er strich ihr mit beiden Händen übers Haar. Immer und immer wieder, und er nuschelte dabei die Worte »eine normale kleine Familie«. Kann sein, dass es die letzten Worte waren, die sie ihn sagen hörte. Später redete er natürlich noch mit sich selbst, brabbelte und schaute die Wände an, wo sich Erscheinungen abspielten. Jene Worte aber waren wirklich an sie gerichtet, und sie wusste nicht, ob es sich dabei um eine Beschwörung oder womöglich ein Flehen handelte.
    Als er tot war, durften sie für ein paar Stunden nach Hause fahren, während er hergerichtet wurde. Bei ihrer Rückkehr war er wirklich tot. Starr und grau, aber gefällig lag er da und zeigte fast ein

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