Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
Sutton hatte dafür größtes Verständnis. Damen mochten es sicher nicht, wenn sich ein riesiges Untier auf ihnen breitmachte.
Herren fänden es auch nicht angenehm.
Er blickte sie verdrossen an. Der Wolf tat es ihm gleich. Ohne sein Revier im Geringsten preiszugeben und ohne Sutton auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen rutschte das Tier von dem leblosen Körper herunter und stand nun daneben. Es bewegte sich einen winzigen Schritt weit, brachte sein Maul in Stellung über dem Kopf der Frau und – gerade als Sutton seine Hände erneut hob, um es anzugreifen, bevor es zubeißen konnte – leckte der Frau wie ein Schoßhund seitlich übers Gesicht.
Das war ein gar seltsamer Auftakt für ein Abendessen. Plötzlich kam Sutton ein sehr eigenwilliger Gedanke. Tatsächlich war er unmöglich.
„Kann es sein, dass du versuchst, sie zu schützen? Vor mir?“, fragte Sutton und fühlte sich ein wenig dumm dabei, einmal, weil er mit einem Wolf sprach, und dann, weil er drauf und dran war, sich nicht nur zum Idioten, sondern auch zum Wolfsnachtmahl zu machen, wenn er das Biest nicht schnell umbrachte.
„Ich werde sie dir schon nicht wegfressen. Das Verschlingen von Damen gehört sich nicht für einen Mann von Welt.“
Das Tier antwortete mit einem knurrenden Fauchen. Man konnte davon ausgehen, dass es den Argumenten nicht zugänglich gewesen war.
Ganz langsam fasste Sutton in seinen Mantel, holte den Flachmann mit dem Enzian raus und öffnete ihn. Er trat vorsichtig einen Schritt vor und hielt inne, als der Blick des Wolfes sich auf einmal vernebelte und eine begriffsstutzige Gier annahm, die eben noch nicht zu sehen gewesen war.
„Verschwinde, du dummes Vieh, bevor ich dir den Pelz versenge!“
Eine Tatze legte sich auf die Schulter der Dame als Geste des Besitzstandes. Sutton tat einen weiteren winzigen Schritt nach vorn. Das Knurren wurde lauter. Der Meister hätte am liebsten mitgeknurrt. Was er tat, war einfach dumm.
Er kauerte sich nieder, immer noch ein paar Schritte von der bewusstlosen Frau entfernt.
„Rück zur Seite!“, befahl er, so ruhig es ihm unter den gegebenen Umständen möglich war. „Auf mit dir! Los! Platz!“
Der Wolf ignorierte seine Befehle. Entweder wollte er nicht von seinem Nachtmahl lassen, oder er sah Sutton als Gefahr an. Keine der beiden Interpretationen war dazu angetan, Sutton fröhlicher zu machen. Langsam schob er sich weiter vor.
Das Knurren wurde nochmals lauter. Der letzte Rest von Intelligenz, die Sutton noch vor Kurzem in den Augen des Tieres zu sehen gemeint hatte, war nun vollends verschwunden. Der Blick des Tieres war nur noch wild und gierig.
Was konnte er nur tun? Einfach zu gehen und die Frau ihrem Schicksal zu überlassen, ging Sutton gegen den Strich. Zugleich hatte er freilich auch nicht den Eindruck, dass sein Eingreifen irgendetwas verbesserte. Tatsächlich schien die Situation immer gefährlicher zu werden, je näher er kam, um zu helfen.
Zudem musste er auch noch andere Dinge bedenken. Es war ihm klar geworden, dass sie sich relativ nah an der Straße befanden, etwas, das Sutton zu vermeiden versucht hatte. Aber wenn das Terrain einem fremd war, würde man früher oder später immer wieder auf eine Straße stoßen.
Die Bruderschaft reiste hier irgendwo herum. Er glaubte nicht, dass sie sehr weit waren. Gleichzeitig gegen einen Riesenwolf und einen weiteren Meister zu kämpfen würde nicht gehen. Das Ergebnis stand schon von Vornherein fest.
„Verdammt, du blöde Töle! Jetzt mach es mir nicht so schwer!“, zischte Sutton.
Er sollte in der Lage sein, eine Art Verbindung mit dem Tier zu spüren. Als er noch ein Junge im Wilden Westen gewesen war, hatte man ihm eine andere Art von Magie nahegebracht. Ein Schamane hatte ihm ein tieferes Verständnis für die Natur und deren alles durchdringende Macht gegeben. Das hatte Sutton nicht zu einem Medizinmann gemacht, doch letztendlich hatte die Erfahrung ihn auf den Weg gebracht, auf dem er sich jetzt befand. Er war jetzt ein Meister des Arkanen und Mitglied einer der hervorragendsten Logen. Die schiere Menge von Logenwissenschaft hatte seine frühe Ausbildung fast in Vergessenheit geraten lassen, doch er wusste immer noch, was sein Totemtier war: der Wolf.
Er versuchte, sich auf das Tier zu konzentrieren, eine Art Verbindung herbeizuführen und die Unterschiede zwischen ihnen hinter einem größeren Konzept natürlichen Seins verschwinden zu lassen. Jede Kreatur war Teil eines großen Ganzen, einer
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