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Scriptum

Scriptum

Titel: Scriptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Khoury
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nervenzehrende Nacht lag vor ihr.
    Die letzten paar Tage waren verschwommen an ihr vorbeigezogen. Sie war in der Butler Library der Columbia University geblieben,
     bis man sie bei der Schließung um elf buchstäblich hinausgeworfen hatte. Irgendwann kurz nach Mitternacht war sie mit einem
     Stapel Bücher im Gepäck zu Hause angekommen und hatte alles durchgearbeitet. Endlich, als die Sonne bereits durch ihr Schlafzimmerfenster
     schien, hatte sie sich der Müdigkeit ergeben, nur um neunzig Minuten später von ihrem Radiowecker gnadenlos wieder aus dem
     Schlaf gerissen zu werden.
    Jetzt saß sie am Schreibtisch und kämpfte sich mit brennenden Augen weiter durch einen kleinen Berg aus Büchern, teils ihre
     eigenen, teils Bestände des Instituts, das über eine umfangreiche Bibliothek verfügte. Wann immer ihr etwasbeachtenswert erschien, startete sie aufgeregt eine Internetsuche, segnete Google für die Stunden, die sie auf diese Weise
     sparte, und verfluchte die Suchmaschine jedes Mal, wenn sie nicht die gewünschten Ergebnisse lieferte.
    Bislang überwog das Fluchen bei weitem.
    Sie wandte sich von ihrem Schreibtisch ab, ließ den Blick aus dem Fenster schweifen und rieb sich die müden Augen. Die Schatten
     im Garten verschwammen, vor Erschöpfung konnte sie nicht mehr richtig fokussieren. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie
     zuletzt so viel in so kurzer Zeit gelesen hatte. Ein einziges Wort war wie in ihre Netzhaut eingebrannt, auch wenn sie es
     bisher noch nirgendwo erwähnt gefunden hatte:
    Fonsalis.
    Als sie in den Abend hinausstarrte, blieb ihr Blick an der großen Weide im Garten hängen. Ihre dünnen Zweige schwankten in
     der sanften Abendbrise, der Stamm zeichnete sich als dunkle Silhouette vor der hohen Ziegelmauer ab, die den Schein der Straßenlaternen
     zurückwarf.
    Tess sah die leere Bank unter dem Baum an, die hier mitten in der Stadt so unwirklich schien, so ruhig und idyllisch. Am liebsten
     wäre sie hinausgegangen, hätte sich darauf eingerollt und tagelang geschlafen.
    In diesem Moment schoss ihr ein Bild durch den Kopf.
    Ein verwirrendes Bild.
    Sie dachte an das Messingschild, das auf einem kleinen Pfosten bei dem Baum angebracht war. Ein Schild, das sie hundertmal
     gelesen hatte.
    Die Weide war vor über fünfzig Jahren unter großem Aufheben von dem armenischen Gönner des Instituts importiert worden. Er
     hatte sie aus dem Dorf, aus dem er stammte, hertransportierenlassen zum Gedenken an seinen Vater, der ebenso wie zweihundert weitere armenische Intellektuelle und einflussreiche Persönlichkeiten
     1915, in den ersten Tagen des Genozids, ermordet worden war. Der türkische Innenminister hatte sich damals gebrüstet, er werde
     dem armenischen Volk einen derart vernichtenden Schlag versetzen, dass es mindestens fünfzig Jahre brauchen würde, um wieder
     auf die Beine zu kommen. Seine Worte hatten sich in tragischer Weise als prophetisch erwiesen: Die armenische Nation hatte
     eine Tragödie nach der anderen erlitten und war gerade erst im Begriff, diese dunkle Ära hinter sich zu lassen.
    Der Baum war wegen seiner passenden Symbolik ausgewählt worden, Trauerweiden fand man auch häufig auf Friedhöfen, von Europa
     bis nach China. Die Verbindung von Weidenbaum und Trauer ging auf die Geschichte des alttestamentarischen Königs David zurück.
     Nachdem er Bathseba zur Frau genommen hatte, erschienen ihm der Überlieferung nach zwei Engel, die ihm begreiflich machten,
     wie schwer er sich versündigt hatte. Daraufhin warf sich der König nieder und weinte vierzig Tage und Nächte lang bittere
     Tränen der Reue. In diesen vierzig Tagen soll er so viele Tränen vergossen haben, wie die gesamte Menschheit noch für ihre
     Sünden weinen würde, von damals bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Die Tränen rannen in zwei Strömen in den Garten hinaus
     und ließen dort zwei Bäume entspringen: den Weihrauchbaum, der ständig Tränen in Form von Harz absondert, und die Trauerweide,
     die ihre Zweige vor Gram hängen lässt.
    Tess konnte sich von den Worten auf dem Messingschild nicht lösen, sie sah die Inschrift geradezu bildlich vor sich. Der Baum
     wurde der Gattung
Salix
zugeordnet.
    Auch die genaue Artbezeichnung der Trauerweide war auf dem Schild angegeben.
    Salix babylonica.
    Die Lösung lag direkt vor ihrer Nase.

KAPITEL 50
    Am nächsten Morgen liefen bei Reilly und Aparo im Büro die Telefone heiß. Reilly ließ sich von Hendricks auf den neuesten
     Stand bringen. Was er

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