Scriptum
die Augen über, als Gus den Gegenstand endlich zum Vorschein brachte: ein kunstvoll
gearbeitetes, mit Edelsteinen besetztesKreuz aus Gold, etwa fünfzig Zentimeter lang, atemberaubend fein ausgeführt.
Gus setzte es auf der Zeitung ab, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Er hörte, wie Lucien zischend die Luft einzog.
«Mon Dieu, mon Dieu.»
Der Franzose riss seinen Blick von dem Kreuz los und schaute mit Schweißperlen auf der schmalen Stirn Gus an. «Lieber Gott,
Gus.»
Tja, damit traf er den Kern der Sache.
Er schaute wieder nach unten. Gus folgte seinem Blick und sah, dass die Zeitung bei einem Fotobericht aus dem Museum aufgeschlagen
war.
«Das stammt aus dem …»
«Ja», sagte Gus mit schiefem Grinsen. «Ist ’n geiles Ding, was? Spitze.»
Um Luciens Mund zuckte es nervös. «
Mais non, il est complètement taré, ce mec.
Ich bitte Sie, Gus, das kann ich nicht anrühren.»
Gus legte auch keinen Wert darauf, dass Lucien es anrührte. Er sollte es bloß für ihn verkaufen. Und zwar möglichst fix. Das
letzte halbe Jahr über hatte Gus beim Pferderennen eine ausgesprochene Pechsträhne gehabt. Schulden hatte er zwar schon öfters
gehabt, aber noch nie so viele wie diesmal; und er hatte noch nie Schulden bei diesen Leuten gehabt, bei denen er jetzt in
der Kreide stand. Solange Gus zurückdenken konnte, seit dem Tag, an dem er größer und kräftiger geworden war als sein Alter
und er den despotischen Säufer windelweich geprügelt hatte, hatten alle Angst vor ihm. Zum ersten Mal seit seinem vierzehnten
Lebensjahr wurde ihm nun selbst klar, was es hieß, Angst zu haben. Die Männer, bei denen er mit seinen Wettschulden in der
Kreidestand, spielten in einer völlig anderen Liga. Die würden ihn so skrupellos und kalt lächelnd um die Ecke bringen, wie er eine
Kakerlake zertrat.
Auf der Rennbahn, das war das Ulkige, hatte sich ihm auch der Ausweg aus seiner Misere aufgetan. Dort hatte er den Typen kennen
gelernt, der ihm das Angebot machte, bei der Museumsnummer mitzumachen. Und hier war er nun, obwohl er klare Anweisungen hatte,
mindestens ein halbes Jahr zu warten, ehe er versuchte, irgendetwas von seiner Beute zu verkaufen.
Na, scheiß drauf. Er brauchte Geld, und zwar sofort.
«Sie sollen sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wo es herkommt, verstanden?», blaffte er. «Sie sollen sich bloß darum
kümmern, wer es haben will und für wie viel.»
Lucien machte den Eindruck, als würde ihn gleich der Schlag treffen. «
Mais non
… hören Sie mir zu,
Göss
, das ist ausgeschlossen. Vollkommen ausgeschlossen. Die Ware ist momentan viel zu heiß, es wäre Wahnsinn, das –»
Gus packte Lucien am Hals und zerrte ihn halb über den Tisch, der gefährlich ins Schwanken geriet. Er brachte sein Gesicht
direkt vor Luciens. «Ist mir scheißegal, und wenn das Ding Atomkerne zum Schmelzen bringt», zischte er. «Leute sammeln solchen
Kram, und Sie wissen, wie man an die rankommt.»
«Es ist zu früh», quäkte Lucien mühsam, da Gus ihm weiter den Hals zudrückte.
Gus ließ los, und der Franzose plumpste zurück auf seinen Stuhl. «Behandeln Sie mich nicht, als wäre ich beschränkt», schnauzte
er. «Für Kram wie diesen ist es immer zu früh, da kommt nie eine günstige Gelegenheit. Warum es also nicht gleich abstoßen.
Außerdem, und das wissen Sie, gibt es genugLeute, die dieses Ding kaufen werden, weil sie wissen, was es ist und wo es herkommt. Kranke Perverse, die bereit sind, ein
kleines Vermögen auszugeben, damit ihnen einer abgeht bei der Vorstellung, so was in ihrem Tresor zu haben. Sie müssen mir
nur so einen auftreiben, und zwar schnell. Und ich warne Sie, mich irgendwie beim Preis zu linken. Sie kriegen zehn Prozent,
und zehn Prozent bei einem Stück von dem Wert sind ja wohl nicht zu verachten, oder?»
Lucien schluckte und rieb sich den Hals. Er zog ein seidenes Taschentuch hervor und fuhr sich damit übers Gesicht. Sein Blick
huschte nervös umher, als würde er fieberhaft nachdenken. Dann schaute er zu Gus hoch und sagte: «Zwanzig.»
Gus sah ihn befremdet an. «Lucien» – er sprach den Namen wie immer bewusst falsch aus –, «Sie wollen mich doch nicht auf den Arm nehmen, oder?»
«Keineswegs. Bei so etwas müssen es zwanzig Prozent sein.
Au moins
. Ich gehe damit ein hohes Risiko ein.»
Gus ließ wieder die Hand vorschnellen, aber diesmal kam Lucien ihm zuvor und rutschte mit dem Stuhl zurück, sodass er außer
Reichweite
Weitere Kostenlose Bücher