Scriptum
Nachkommenschaft war.» Tess hielt kurz inne und beobachtete Reillys Reaktion. «Ich weiß, das
klingt abstrus, aber die Geschichte ist sehr verbreitet, viele Menschen haben Nachforschungen darüber angestellt, und zwar
nicht nur Bestsellerautoren, sondern auch seriöse Forscher und Wissenschaftler.»
Sie musterte Reilly und fragte sich, was er wohl denken mochte. Die Sache mit dem Schatz hat er womöglich noch geschluckt,
aber jetzt habe ich’s wohl vermasselt. Sie lehnte sich zurück. Wie albern das Ganze sich anhörte, wenn man es jemand anderem
gegenüber aussprach.
Reilly schien kurz nachzudenken, dann huschte ein feines Lächeln über seine Lippen. «Die Nachkommenschaft Jesu, ja? Falls
er ein Kind hatte oder zwei, und angenommen, die hattendann auch wieder Nachkommen und so weiter … dann müssten es nach zweitausend Jahren – also, grob geschätzt, siebzig oder achtzig Generationen später –, da die Zahl ja exponentiell anwächst, Tausende sein, es müsste vor lauter Nachkommen von ihm auf Erden geradezu wimmeln,
nicht wahr?» Er gluckste. «So einen Unfug nehmen die Leute tatsächlich ernst?»
«Absolut. Der unauffindbare Templerschatz gehört zu den größten ungelösten Rätseln aller Zeiten. Es leuchtet ein, warum Menschen
sich dafür interessieren. Schon die Vorgeschichte ist enorm reizvoll: Neun Ritter tauchen in Jerusalem auf und behaupten,
sie wollen Tausende Pilger beschützen. Gerade einmal neun. Schon ziemlich ehrgeizig, wenn man nicht gerade
Die glorreichen Sieben
zum Maßstab nimmt, oder? Daraufhin schenkt König Balduin ihnen eine Immobilie in erster Lage in Jerusalem, den Tempelberg,
wo einst der Zweite Tempel Salomos stand, der 70 nach Christus von den Legionen des Titus zerstört und dessen Schatz geraubt
und nach Rom gebracht wurde. Was eine Frage aufwirft: Hätten nicht die Priester des Tempels, vorab informiert über den bevorstehenden
Angriff der Römer, etwas dort verbergen können, was die Römer nicht gefunden haben?»
«Was aber die Templer schließlich gefunden haben.»
Sie nickte. «Das lädt zur Mythenbildung geradezu ein. Eintausend Jahre bleibt es dort vergraben, und sie buddeln es schließlich
aus. Dann ist da noch die so genannte Kupfer-Schriftrolle, die man in Qumran gefunden hat.»
«Die berühmten Schriftrollen vom Toten Meer gehören hier also auch hinein?»
Mach langsam, Tess
. Aber sie konnte sich einfach nicht bremsen und redete weiter drauflos. «In einer dieser Schriftrollenist ausdrücklich die Rede von ungeheuren Mengen Gold und anderen Wertgegenständen, die unter dem Tempel selbst vergraben wurden,
angeblich an vierundzwanzig separaten Stellen. Aber auch von einem nicht näher benannten Schatz ist die Rede. Worum handelte
es sich dabei? Wir wissen es nicht. Es könnte alles sein.»
«Schön. Und welche Rolle spielt jetzt das Turiner Grabtuch bei alledem?», sinnierte Reilly.
Kurz huschte ein verärgerter Ausdruck über ihr hübsches Gesicht, aber sie hatte sich gleich wieder im Griff und lächelte freundlich.
«Sie glauben kein Wort von der ganzen Sache, stimmt’s?»
Reilly hob die Hände und sah aufrichtig zerknirscht drein. «Nein, hören Sie, tut mir Leid. Bitte, machen Sie weiter.»
Tess überlegte kurz. «Diese neun einfachen Ritter erhalten einen Teil des Königspalastes mit Ställen, die angeblich Platz
für zweitausend Pferde boten. Warum war Balduin so großzügig zu ihnen?»
«Keine Ahnung, vielleicht hat er vorausschauend gedacht. Vielleicht war er von ihrer Hingabe schwer beeindruckt.»
«Aber genau das ist es ja», beharrte sie unbeirrt. «Sie hatten noch gar nichts vorzuweisen. Sie bekommen dieses riesige Hauptquartier
zugewiesen, und was tun unsere glorreichen neun? Ziehen sie aus, vollbringen sie alle möglichen Heldentaten und sorgen dafür,
dass die Pilger unversehrt ihr Ziel erreichen, wie es eigentlich ihrer Aufgabe entspräche? Nein. Sie verbringen erst einmal
volle neun Jahre im Tempel. Ohne sich vom Fleck zu rühren. Ohne auszuziehen, ohne neue Rekruten anzuwerben. Sie schließen
sich einfach dort ein. Neun Jahre lang.»
«Entweder haben sie eine Phobie gegen öffentliche Plätze entwickelt, oder …»
«Oder es war ein einziges großes Täuschungsmanöver. Die am weitesten verbreitete Theorie – und ich persönlich finde sie stichhaltig
– besagt, dass sie mit Ausgrabungen beschäftigt waren. Nach etwas suchten, das dort vergraben war.»
«Etwas, das die Priester
Weitere Kostenlose Bücher