SdG 05 - Der Tag des Sehers
die Beine an, stieß sich mit einem Arm ab und schaffte es, sich auf den Rücken zu rollen. Während sie keuchend Luft holte, starrte sie -
Die Hand hielt fest. Itkovian begann zu verstehen. Hinter den Erinnerungen wartete der Schmerz, wartete all das, was zu umarmen er gekommen war. Jenseits der Erinnerungen war sein Gegengeschenk die Absolution – wenn er nur überleben konnte …
Die Hand führte ihn. Durch eine Geisteslandschaft. Doch er schritt hindurch, wie ein Riese es getan hätte, das Land weit unter ihm.
Sterblicher, wirf diese Erinnerungen ab. Lass sie los, damit sie die Erde tränken können wie die Gaben der Jahreszeiten. Hinab auf die Erde, Sterblicher – durch dich können sie Leben in ein vergehendes, verwüstetes Land zurückbringen.
Bitte. Du musst verstehen. Erinnerungen gehören in den Mutterboden, in die Felsen, in den Wind. Sie sind die unsichtbare Bedeutung des Landes, die die Seelen all derer berührt, die es ansehen – wirklich ansehen. Berührungen, in schwachem Flüstern, alte, fast schon formlose Echos – denen das Leben eines Sterblichen seine eigenen hinzufügt.
Labe diese Traumlandschaft, Sterblicher.
Und denke daran. Wir knien vor dir. In unseren Herzen zum Verstummen gebracht durch das, was du uns anbietest, was du uns von dir anbietest.
Du bist Itkovian, und du willst die T’lan Imass umarmen.
Wirf diese Erinnerungen von dir – weine um uns, Sterblicher -
Eine aufwallende, brodelnde Wolke, wo zuvor nichts anderes als eine formlose, farblose, unmöglich weit entfernte Kuppel gewesen war – die Wolke dehnte sich aus, torkelte immer weiter, um den ganzen Himmel auszufüllen, zog dunkle Vorhänge über gequetschte Regenbogen. Blitze, blutrot gefleckt, zuckten von Horizont zu Horizont.
Sie beobachtete das Herunterfallen, das Herabsteigen – Regen, nein, Hagel -
Er schlug auf. Ein röhrendes Trommeln auf dem Boden – das Geräusch füllte ihre Ohren – kam näher -
Um auf sie einzuschlagen.
Sie schrie auf, riss die Hände hoch.
Jeder Aufprall war explosiv, viel mehr als einfach nur gefrorener Regen.
Leben. Uralte, lang vergessene Leben.
Und Erinnerungen -
Alle regneten herab.
Der Schmerz war unerträglich -
Und dann Aufhören, ein Schatten über sie hinweg, nah, eine Gestalt, zusammengeduckt unter dem trommelnden Geprassel des Hagels. Eine warme, sanfte Hand auf ihrer Stirn, eine Stimme -
»Nicht mehr viel weiter, mein liebes Schätzchen. Dieser Sturm – unerwartet – «, die Stimme brach, keuchte, als die Sintflut noch stärker wurde, »doch … wunderbar. Aber du darfst jetzt nicht anhalten. Hier, Kruppe wird dir helfen …«
Er schützte sie, so gut er konnte, vor dem Sperrfeuer, begann sie vorwärts zu ziehen, näher …
Silberfuchs wanderte. Verloren, halb blind von den Tränen, die ihr ohne Unterlass aus den Augen strömten. Was sie als Kind begonnen hatte, auf einem lang vergessenen Grabhügel außerhalb der Stadt Fahl – was sie vor so langer Zeit begonnen hatte –, schien nun erbärmlich.
Sie hatte die T’lan Imass abgewiesen.
Die T’lan Ay abgewiesen.
Aber nur für eine gewisse Zeit – das war zumindest ihre Absicht gewesen. Eine kurze Zeit, in der sie daran arbeiten würde, die Welt zu schaffen, die sie erwartete. Die Geister, die sie versammelt hatte, Geister, die jenem uralten Volk dienen, ihre Götter werden würden – sie hatte gewollt, dass sie den T’lan Imass, ihren so lang beraubten Seelen, Heilung brachten.
Eine Welt, in der ihre Mutter wieder jung war.
Eine Traumwelt, ein Geschenk von K’rul. Ein Geschenk von Kruppe, dem Daru.
Ein Geschenk der Liebe, als Ausgleich für all das, was sie ihrer Mutter genommen hatte.
Doch die T’lan Ay hatten sich abgewandt, antworteten nicht auf ihre verzweifelten Rufe – und jetzt war Elster tot. Zwei Seesoldatinnen, zwei Frauen, von deren unerschütterlicher Gegenwart sie mehr und mehr abhängig geworden war – viel mehr, als es ihnen je bewusst gewesen sein konnte. Zwei Seesoldatinnen, getötet, als sie versuchten, sie zu verteidigen.
Elster. Alles, was Flickenseel war, klagte in untröstlichem Kummer. Sie hatte sich auch von ihm abgewandt. Und doch hatte er sich Kallor in den Weg gestellt.
Er hatte es getan, weil er der Mann geblieben war, der er immer gewesen war.
Und jetzt, jetzt waren auch die T’lan Imass verloren. Dieser Mann, Itkovian, dieser Sterbliche, ein Schild-Amboss ohne Gott, der in sich die Tausende von Getöteten von Capustan aufgenommen hatte – er
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