SdG 08 - Kinder des Schattens
erklärt. Sie hatten ihn, um die Wahrheit zu sagen, auch nicht allzu sehr bedrängt. Ganz im Gegenteil schienen sie allzu schnell mit den unbeholfenen, kraftlosen Antworten zufrieden gewesen zu sein, die er ihnen auf ihre Hand voll Fragen gegeben hatte. Udinaas fragte sich, ob Uruth bei ihrer Befragung von Federhexe ähnlich desinteressiert gewesen war. Die Tiste Edur nahmen nur selten viel Notiz von ihren Sklaven, und für ihre Bräuche zeigten sie sogar noch weniger Verständnis. Natürlich war es ebenso ein Privileg von Eroberern, sich so zu verhalten, wie es das allgemeine Schicksal von Eroberten war, unter dieser Gleichgültigkeit zu leiden.
Doch Persönlichkeiten blieben bestehen. Auf einer individuellen Ebene. Freiheit war nicht viel mehr als ein zerfetztes Netz, das über einen Haufen unbedeutender, selbst auferlegter Bindungen drapiert war. Sie abzustreifen, änderte nicht viel, beeinflusste vielleicht lediglich die tröstlichen Selbsttäuschungen des Wunschbilds. Der Geist ist an das Selbst gebunden, das Selbst an das Fleisch, das Fleisch an die Knochen. Nach dem Willen des Abtrünnigen sind wir ein Flechtwerk aus Käfigen, und was auch immer in ihnen flattert, kennt nur eine einzige Freiheit, und die ist der Tod.
Eroberer pflegten anzunehmen, dass sie die Persönlichkeit eroberten. Die Wahrheit hingegen war, dass die Persönlichkeit nur von innen getötet werden konnte, und sogar diese Gebärde war nicht mehr als ein Hirngespinst. Einsamkeit hatte viele Kinder, und Zersetzung war nur eines unter ihnen – allerdings war der Pfad zu ihr individuell, denn er begann, wenn die Persönlichkeit zurückgelassen wurde.
Aus dem Gebäude hinter ihm erklang der Trauergesang, die Edur-Kadenz des Kummers. Hunh, hunh, hunh, hunh … Ein Klang, der Udinaas immer frösteln ließ. Als würde ein Gefühl gegen die gleiche Wand stoßen, wieder und wieder und wieder. Die Stimme der Gefangenen, der Gehinderten. Eine Stimme, die durch die harten Tatsachen dieser Welt überwältigt ist. Die Edur trauerten weniger um das, was sie verloren hatten, als vielmehr darum, verloren zu sein.
Geschieht dies, wenn man hunderttausend Jahre lebt?
Schließlich tauchten die Witwen auf; sie umringten den Leichnam, der in Hüfthöhe auf dichten, wirbelnden Schatten dahintrieb. Eine Gestalt aus Kupfermünzen. Die einzige Art, wie die Edur Geld gebrauchten. Kupfer, Zinn, Bronze, Eisen, Silber und Gold – das war die Rüstung der Toten.
Zumindest ist das ehrlich. Die Letherii benutzen Geld, um das Gegenteil zu erlangen. Nun, nicht ganz. Eher so etwas wie die Illusion des Gegenteils. Reichtum als die Rüstung des Lebens. Stellungen, Festungen, Zitadellen, eine ewig wachsame Armee. Doch der Feind kümmert sich um das alles nicht, denn der Feind weiß, dass ihr wehrlos seid.
»Hunh, hunh, hunh, hunh …«
Dies war die Stunde von Tochter Sheltatha Lore, in der alle materiellen Dinge unsicher wurden. Besudelt vom Rückzug des Lichts, wenn die Luft ihre Klarheit verlor und ihre Splitter und Körner enthüllte, die hellen und die dunklen Unzulänglichkeiten, die zu anderen Zeiten so perfekt getarnt waren. Wenn sichtbar wurde, dass der Thron leer war.
Warum sollte man Geld nicht anbeten? Zumindest sind seine Belohnungen offensichtlich und erfolgen unverzüglich. Aber nein, das war eine zu starke Vereinfachung. Der Anbetungskult der Letherii war feinsinniger, seine Ethik an die Charakterzüge und Verhaltensweisen gebunden, die dem Erwerb von Reichtum besonders dienlich waren. Fleiß, Disziplin, harte Arbeit, Optimismus, die Versinnbildlichung der Herrlichkeit. Und die entsprechenden schlechten Eigenschaften: Faulheit, Verzweiflung und die Anonymität des Versagens. Die Welt war brutal genug, das eine vom anderen zu trennen und keinen Raum für Zweifel oder blasse Ausflüchte zu lassen. Auf diese Weise konnte Anbetung zu praktischem Denken werden, und praktisches Denken war ein kalter Gott.
Abtrünniger, mache unseren Gott zu einem kalten Gott, so dass wir ohne Zurückhaltung handeln können. Ein angemessenes Gebet der Letherii, auch wenn niemand es so dreist ausdrücken würde. Federhexe sagte, jede Tat, die man vollbrachte, sei ein Gebet, und auf diese Weise diene man im Laufe eines Tages einem ganzen Haufen Götter. Wein und Nektar und Rostlaub und das daraus gewonnene Getränk sei ein Gebet an den Tod, sagte sie. Liebe sei ein Gebet an das Leben. Rache sei ein Gebet an die Dämonen der Rechtschaffenheit. Einen Geschäftsvertrag zu besiegeln
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