Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
dass mein Vater nicht allein gehandelt hat. Was sind das für Beweise?«
»Das können wir Ihnen leider nicht sagen«, antwortete Michelle.
»Na, toll! Sie können mir das nicht sagen, erwarten aber, dass ich Ihnen Rede und Antwort stehe.«
»Wenn damals wirklich noch jemand anders beteiligt war, dann müssen wir herausfinden, wer«, sagte King. »Ich denke, das wäre auch in Ihrem Interesse.«
»Warum? An den Tatsachen würde es nichts ändern. Mein Vater hat Clyde Ritter erschossen. Dafür gab es hundert Augenzeugen.«
»Das stimmt«, sagte Michelle, »aber inzwischen haben wir Grund zu der Annahme, dass das nur ein Teil der Geschichte war.«
Kate lehnte sich in ihrem Schreibtischsessel zurück. »Was genau wollen Sie denn von mir wissen?«
»Alles, was Sie uns über die Ereignisse erzählen können, die dem Mord an Clyde Ritter vorausgingen«, erklärte Michelle.
»Na ja, wenn Sie meinen, er kam eines Tages zu mir und verkündete, er wolle jetzt zum Mörder werden, dann haben Sie sich getäuscht. Ich war zwar damals noch fast ein Kind, aber in so einem Fall hätte ich wohl trotzdem jemand anders ins Vertrauen gezogen.«
»Wirklich?«, fragte King.
»Was soll die Frage?«
King zuckte mit den Schultern. »Er war Ihr Vater. Professor Jorst sagte uns, Sie hätten ihn geliebt. Vielleicht hätten Sie doch mit niemandem darüber gesprochen.«
»Ja, vielleicht«, sagte Kate wie beiläufig und fing wieder an, Bleistift und Lineal herumzuschieben.
»Gut, gehen wir mal davon aus, dass er seine Absichten nicht angekündigt hat. Was gab es sonst noch? Hat Ihr Vater irgendetwas Verdächtiges oder Ungewöhnliches geäußert?«
»Nach außen hin war mein Vater ein brillanter Professor, doch unter dem Lack verbarg sich ein unverbesserlicher Radikaler, der nach wie vor in den Sechzigerjahren lebte.«
»Können Sie das etwas präzisieren?«
»Er neigte zu Verbalradikalismen, in die man allerhand Verdächtiges hätte hineininterpretieren können.«
»Okay, kommen wir zu Konkreterem: Haben Sie irgendeine Ahnung, woher Ihr Vater die Waffe hatte, mit der er Ritter erschoss? Das konnte nämlich niemals ermittelt werden.«
»Diese Frage hat man mir schon damals gestellt. Ich konnte sie damals nicht beantworten und kann es auch heute nicht.«
»Na gut«, sagte Michelle. »Erinnern Sie sich an Besucher in den Wochen vor dem Mord an Ritter? Tauchten da plötzlich Leute auf, die Sie nicht kannten?«
»Arnold hatte nur wenige Freunde.«
King legte den Kopf schief und fragte: »Sie nennen ihn jetzt Arnold? «
»Ich kann ihn nennen, wie ich will.«
»Er hatte also nur wenige Freunde. Glauben Sie, da war ein potenzieller Attentäter dabei?«, fragte Michelle.
»Schwer zu sagen, zumal ich nicht mal wusste, dass Arnold einer war. Attentäter neigen normalerweise nicht dazu, ihre Absichten lauthals herauszuposaunen, oder?«
»Manchmal schon«, gab King zurück. »Professor Jorst sagte, Ihr Vater sei öfter zu ihm ins Büro gekommen und habe sich maßlos über Clyde Ritter aufgeregt, der Mann ruiniere das ganze Land und so weiter. Haben Sie selber auch solche Ausbrüche erlebt?«
Kate reagierte auf die Frage, indem sie aufstand und zum Fenster ging, aus dem man auf die Franklin Street hinabsah. Draußen fuhren Autos und Fahrräder vorbei. Auf den Treppen vor dem Eingang des Gebäudes saßen Studenten.
»Was spielt das denn heute noch für eine Rolle? Ob ein Mörder oder zwei oder drei oder hundert – das ist doch scheißegal!« Sie drehte sich um und starrte die beiden an, die Arme trotzig über dem Busen verschränkt.
»Vielleicht haben Sie Recht«, erwiderte King. »Aber andererseits könnte es die Tat Ihres Vaters erklären.«
»Er hat diese Tat begangen, weil er Clyde Ritter und alles, wofür der stand, hasste«, erklärte sie nachdrücklich. »Den Drang, das Establishment in seinen Grundfesten zu erschüttern, hat er nie ganz verloren.«
Michelle warf einen Blick auf die politischen Poster an den Wänden. »Professor Jorst sagte uns, Sie seien, was die ›Erschütterung des Establishments‹ betrifft, in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten.«
»Vieles, was mein Vater getan hat, war gut und richtig. Und welcher Mensch mit Verstand würde einen Kerl wie Ritter nicht verabscheuen?«
»Da gibt’s leider einige«, sagte King.
»Ich habe alle Berichte und Reportagen gelesen, die hinterher über den Fall erschienen sind. Mich wundert, dass niemand ein Fernsehspiel draus gemacht hat. Vermutlich war die Geschichte
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