Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
nicht interessant genug.«
»Man kann jemanden ja auch hassen, ohne ihn gleich umzubringen. Ihr Vater war allen Berichten zufolge ein leidenschaftlicher Mann mit festen Grundsätzen. Dennoch ist er nie zuvor als Gewalttäter hervorgetreten.« Bei diesen Worten zuckte Kate mit den Augen. King bemerkte es, setzte jedoch seine Ausführungen fort: »Selbst zur Zeit des Vietnamkriegs, als er ein zorniger junger Mann war, der ohne weiteres hätte zur Waffe greifen und jemanden erschießen können, blieb Arnold Ramsey friedlich. Angesichts dieser Vorgeschichte wäre es durchaus plausibel gewesen, wenn sich Ihr Vater – ein Professor mittleren Alters in gesicherter Position und mit einer Tochter, die er sehr liebte – dagegen entschieden hätte, seinen Hass auf Ritter in eine Gewalttat münden zu lassen. Dass es schließlich doch so weit kam, wird man wohl anderen Faktoren zuschreiben müssen.«
»Welchen zum Beispiel?«
»Man könnte sich vorstellen, dass ihn jemand anders, eine Person, die er hoch achtete, darum gebeten hat, mit ihr gemeinsam Ritter zu töten.«
»Das ist unmöglich. Mein Vater hat Ritter allein erschossen.«
»Und wenn der andere kalte Füße bekam und deshalb keinen Schuss abgab?«
Kate setzte sich wieder an ihren Schreibtisch, und ihre flinken Finger begannen erneut das geometrische Spiel mit Bleistift und Lineal. »Haben Sie Beweise dafür?«, fragte sie, ohne den Blick zu heben.
»Und wenn wir welche hätten? Würde das Ihr Gedächtnis auffrischen? Würde Ihnen dann noch etwas einfallen?«
Kate wollte etwas sagen, besann sich dann aber anders und schüttelte den Kopf.
Kings Blick fiel auf ein Foto, das in einem Regal stand. Er erhob sich und nahm es in die Hand. Das Bild zeigte Kate und ihre Mutter Regina. Es war jüngeren Datums als das Foto in Jorsts Büro, denn Kate sah bereits aus wie neunzehn oder zwanzig. Regina war immer noch eine schöne Frau, doch ihr Blick wirkte müde und traurig. Vermutlich spiegelten sich die tragischen Ereignisse in ihrem Leben darin wider.
»Ich nehme an, Ihre Mutter fehlt Ihnen.«
»Natürlich. Was ist denn das für eine Frage?« Kate nahm ihm das Foto ab und stellte es wieder ins Regal.
»Soweit ich weiß, lebten Ihre Eltern getrennt, als Ihr Vater starb.«
»Na und? Viele Ehen gehen kaputt.«
»Haben Sie irgendeine Vermutung, aus welchem Grund die Ehe Ihrer Eltern zerbrach?«, fragte Michelle.
»Vielleicht hatten sie sich auseinander gelebt. Mein Vater war ein radikaler Sozialist. Meine Mutter war Republikanerin. Vielleicht lag’s daran.«
»Aber das war doch schließlich schon immer so gewesen, oder?«, meinte King.
»Wer will das schon so genau wissen? Sie haben nie viel darüber gesprochen. Meine Mutter war in ihrer Jugend anscheinend eine tolle Schauspielerin mit großartigen Zukunftsaussichten. Sie hat diesen Traum aufgegeben und stattdessen meinen Vater geheiratet und ihn in seiner Karriere unterstützt. Vielleicht hat sie diesen Entschluss später irgendwann bereut. Vielleicht war sie der Meinung, ihr Leben vertan zu haben. Ich weiß es wirklich nicht, und es ist mir eigentlich auch egal.«
»Nun, ich kann mir vorstellen, dass der Tod Ihres Vaters seine Frau sehr bedrückt hat. Vielleicht hat sie deshalb Selbstmord begangen.«
»Dann hätte sie sich dazu aber jahrelang Zeit gelassen.«
»Sie glauben also, es gab einen anderen Grund?«, fragte King.
»Darüber habe ich mir aber nun wirklich noch keine Gedanken gemacht, okay?«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab, Kate. Ich wette, Sie denken sogar sehr viel darüber nach.«
Kate schlug sich eine Hand vor die Augen. »Das Gespräch ist beendet. Verschwinden Sie!«
In der Franklin Street, auf dem Weg zu Michelles Wagen, sagte King: »Irgendwas weiß sie.«
»Ja«, stimmte Michelle ihm zu. »Die Frage ist nur – wie kriegen wir ’s aus ihr raus?«
»Sie ist sehr reif für ihr Alter. Aber ihr geht auch eine Menge im Kopf rum.«
»Ich frage mich, wie nahe sie und Thornton Jorst sich stehen. Er hat ihr sofort alles über uns erzählt.«
»Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber ich glaube nicht, dass sie ein Verhältnis miteinander haben.«
»Er ist wohl eher so eine Art Ersatzvater?«, schlug Michelle vor.
»Kann sein. Und Väter tun normalerweise alles, um ihre Töchter zu beschützen.«
»Und was tun wir nun?«, fragte Michelle.
»Wir haben Kate Ramsey zweifellos arg durcheinander gebracht. Sehen wir mal, wohin sie uns führt.«
KAPITEL 48
Joan erfuhr einige interessante Dinge
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