Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
was war ich für dich? Eine Trophäe, die man an die Wand nagelt?«
»Nein, eher dachte ich, das wäre meine Rolle.«
»Ich bin nicht durch alle Betten gehüpft, Sean. Ich hatte auch keinen solchen Ruf.«
»Nein, du hattest den Ruf einer eisernen Lady. Ich kannte keinen einzigen Agenten, der nicht einen Heidenrespekt vor dir gehabt hätte. Es gab eine Menge harter Kerle, die eine Höllenangst vor dir hatten.«
Joan schlug den Blick nieder. »Hast du nicht gewusst, dass Ballköniginnen oft die einsamsten Geschöpfe sind? Als ich beim Service anfing, waren Frauen immer noch völlig ungewöhnliche Erscheinungen in diesem Beruf. Wenn ich Erfolg haben wollte, musste ich besser ›meinen Mann stehen‹ als alle Männer. Ich musste mir je nach der Situation eigene Regeln setzen. Heute ist es schon anders, aber damals blieb mir wirklich keine andere Wahl.«
Er berührte ihre Wange und drehte ihr Gesicht zu sich. »Und warum hast du ’s nicht getan?«
»Warum hab ich was nicht getan?«
»Mich um meine Hand gebeten.«
»Das hatte ich vor, aber dann ist was dazwischengekommen.«
»Was?«
»Clyde Ritter wurde ermordet.«
Diesmal wandte King den Blick ab. »Ich war also beschädigte Ware?«
Sie griff nach seinem Arm. »Ich glaube, du kennst mich wirklich nicht besonders gut. Es war viel schlimmer.«
Er sah sie wieder an. »Wie meinst du das?«
King konnte sich nicht erinnern, Joan Dillinger je so nervös erlebt zu haben… außer an jenem Vormittag um 10.32 Uhr, als Ritter gestorben war. Langsam griff sie in ihre Hosentasche, zog ein Stück Papier heraus und reichte es ihm.
King entfaltete den Zettel und las, was darauf geschrieben stand.
Die letzte Nacht war wunderbar. Jetzt darfst du mich überraschen, schlimme Lady. Im Fahrstuhl, Punkt 10.30 Uhr.
In Liebe, Sean
Das Papier war ein Briefbogen aus dem Fairmount-Hotel.
King blickte auf und sah, wie Joan ihn anstarrte.
»Wo hast du das her?«
»Es wurde morgens um neun Uhr unter der Tür meines Zimmers im Fairmount durchgeschoben.«
Verblüfft sah er sie an. »An dem Tag, an dem Ritter erschossen wurde?« Sie nickte. »Und du hast gedacht, ich hätte das geschrieben?« Wieder nickte sie. »All die Jahre über hast du geglaubt, ich hätte möglicherweise etwas mit Ritters Ermordung zu tun?«
»Sean, so versteh doch, ich wusste nicht, was ich denken sollte.«
»Und du hast nie jemandem davon erzählt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ebenso wie du nie jemandem erzählt hast, dass ich im Fahrstuhl war.« Sie sprach jetzt sehr leise. »Und du hast doch gedacht, ich hätte etwas mit Ritters Ermordung zu tun, nicht wahr?«
Er leckte sich die Lippen und wandte den Blick ab. Der Zorn stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Man hat uns beide reingelegt, oder?«
»Ich habe den Zettel an der Leiche gesehen, die in deinem Haus gefunden wurde. Der Text verriet, dass der Autor der Zeilen hinter dem Attentat auf Ritter steckte. Kaum hatte ich ihn gelesen, da war mir klar, dass wir beide benutzt worden waren. Die Person, die den Zettel im Fairmount geschrieben hat, hat uns so gekonnt gegeneinander ausgespielt, dass uns gar nichts anderes übrig blieb, als zu schweigen. Zumindest einer von uns wäre sonst in Verdacht geraten, vielleicht sogar wir beide. Aber es gab einen kleinen Unterschied. Ich konnte die Wahrheit nicht sagen, weil ich dann hätte erklären müssen, was ich in diesem Fahrstuhl zu suchen hatte. Und in dem Fall wäre meine Karriere sofort zu Ende gewesen. Ich habe also aus Eigennutz geschwiegen. Du hingegen hast aus einem anderen Grund den Mund gehalten.« Sie legte die Hand auf seinen Ärmel. »Sag, Sean, warum hast du das getan? Du musst doch geglaubt haben, ich sei dafür bezahlt worden, dich abzulenken. Und trotzdem hast du die ganze Schuld auf dich genommen. Du hättest den Ermittlern doch erzählen können, dass ich im Fahrstuhl war. Warum hast du das nicht getan?« Sie holte tief Luft. »Ich muss das jetzt wirklich wissen.«
Das grelle Geräusch des klingelnden Mobiltelefons ließ sie beide zusammenfahren.
King meldete sich. Es war Michelle.
»Kate Ramsey hat angerufen. Sie will uns etwas Wichtiges mitteilen, aber nur persönlich. Sie will uns auf halbem Wege in Charlottesville treffen.«
»Okay, wir kommen sofort zurück.« Er schaltete das Handy ab, übernahm das Ruder und steuerte das Boot wortlos zurück. Er sah Joan nicht an, und Joan fehlten zum ersten Mal in ihrem Leben die Worte.
KAPITEL 51
Michelle und King trafen Kate Ramsey in der
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