Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
durch und schien wieder in dieselbe Rolle wie damals zu schlüpfen. Seine Hand legte sich auf den imaginären Rücken eines verschwitzten Clyde Ritter, der sich sein Jackett ausgezogen hatte.
King durchlebte noch einmal jenen verhängnisvollen Septembertag im Jahre 1996. Sein Blick musterte prüfend die imaginäre Menschenmenge, potenzielle Störenfriede, Babys, die geküsst werden sollten, das Drängen von hinten und Ritters Reaktion darauf. Er ertappte sich sogar dabei, wie er wieder etwas in sein Mikrofon murmelte und seine Beobachtungen meldete. Er warf einen Blick auf die Uhr an der Wand gegenüber, obwohl dort keine mehr hing und er sie in der Dunkelheit ohnehin nicht hätte erkennen können. Nur noch drei Minuten, dann war das Bad in der Menge vorüber. Verrückt, wenn man genauer darüber nachdachte. Hätte Ramsey sich verspätet oder Ritter die Veranstaltung nur ein paar Minuten früher beendet – nichts wäre geschehen. Und sein eigenes Leben hätte einen völlig anderen Verlauf genommen.
Er war sich dessen selbst nur halb bewusst, als sein Blick hinüberglitt zu der Reihe der Aufzüge. Und er hörte den Glockenschlag, wieder und immer wieder. In seiner Vorstellung gingen auch die Türen unablässig auf und zu. Ihm war, als würde er in dieses Vakuum hineingesogen.
Der Knall ließ ihn vor Schreck zusammenfahren. Trotzdem glitt seine Hand sofort an das Pistolenholster, und er zog die imaginäre Waffe. Er blickte auf die Stelle, wo Ritter am Boden lag, nachdem er umgefallen war. Dann blieb sein Blick an Michelle hängen. Sie stand am Eingang, die Taschenlampe in der Hand. Sie hatte soeben mit Wucht die Tür zugeschlagen.
»Tut mir Leid«, sagte sie. »Ich wollte nur Ihre Reaktion testen. Ich glaube, das hätte ich nicht tun sollen.«
»Nein, wirklich nicht«, sagte King mit Nachdruck.
Sie kam zu ihm. »Was haben Sie gerade gedacht?«
»Wären Sie überrascht, wenn ich jetzt antworten würde: ›Ich weiß es nicht so genau‹?«
»Raus mit der Sprache, es kann sehr wichtig sein.«
Er dachte noch einen Augenblick nach. »Nun, ich entsinne mich, dass ich diesen Arnold Ramsey anstarrte. Sein Gesichtsausdruck passte nicht zu einem Mann, der soeben einen Präsidentschaftskandidaten erschossen hat. Er wirkte weder ängstlich noch herausfordernd, auch nicht wütend oder geistesgestört.«
»Wie denn dann?«
King starrte sie an. »Überrascht, Michelle. So als ob er gar nicht damit gerechnet hätte, Ritter zu töten.«
»Okay, das ergibt nun wirklich keinen Sinn. Er hatte den Mann doch gerade erschossen. Woran erinnern Sie sich sonst noch?«
»Nachdem Ritter weggetragen worden war, kam Bobby Scott zu mir und guckte sich meine Verletzung an.«
»Unter diesen Umständen eine recht bemerkenswerte Reaktion.«
»Nun ja, er wusste ja nicht, was geschehen war, sondern nur, dass er einen verwundeten Agenten hatte. Was wirklich passiert war, kam uns erst später zu Bewusstsein.«
»Sonst noch was?«
King betrachtete den Fußboden. »Als ich später hinausgeführt wurde, gingen Bobby und Sidney Morse draußen im Flur aufeinander los. Es war noch ein Dritter dabei, ein Mann, den ich aber nicht erkannte. Morse war ungefähr eins fünfundsiebzig groß und über zwei Zentner schwer, das meiste davon reines Fett. Daneben der Ex-Marinesoldat Bob Scott, gebaut wie eine Eiche. Das war schon ein Anblick. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich mich vor Lachen gekringelt.«
»Worüber haben die beiden sich denn gestritten?«
»Ritter war tot, und Scott war schuld daran – ich bin sicher, dass Bobby von Morse genau diesen Vorwurf zu hören bekam.«
»Haben Sie später noch mal mit den beiden zu tun gehabt? Oder mit einem von ihnen?«
»Nur noch mit Bobby, anlässlich verschiedener öffentlicher Anhörungen, die danach stattfanden. Unter vier Augen haben wir nie wieder miteinander gesprochen. Ich wollte ihn immer anrufen und ihm sagen, wie Leid mir das alles tat, aber ich habe es nie getan.«
»Ich habe gelesen, dass Sidney Morse in eine Heilanstalt eingeliefert worden ist.«
»Ja. Ich glaube, Ritters politische Ziele waren ihm im Grunde egal. Für Morse war alles Show, ein einzige riesige Bühneninszenierung. Er kam ja ursprünglich auch aus dem Show-Business. Einmal bekam ich mit, wie er zu jemandem sagte, wenn es ihm gelänge, einen Typen wie Ritter ins nationale Rampenlicht zu befördern, dann würde er – Morse – zu einem Idol.«
Michelle sah sich um und schauderte. »Es ist so still hier drin. So ähnlich
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