Sean King 01 - Im Bruchteil der Sekunde: Roman
mal.«
»Das Haus durchwühlt und den Mund mit Geld voll gestopft?«, wiederholte Michelle, und King zog die Brauen hoch.
»Ja, hundert Dollar in fünf Zwanzigdollarnoten. Ich habe Mama selber gefunden. Als ich am Abend bei ihr anrief, ging sie nicht an den Apparat. Von mir zu ihr sind es ungefähr siebzig Kilometer. Also bin ich losgefahren, um nach ihr zu sehen. Und dann dieser Anblick! O verflucht!« Seine Stimme brach.
»Es tut mir Leid. Und entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt habe.«
»Tony. Tony Baldwin.«
»Mein aufrichtiges Beileid, Tony. Ich habe Ihre Mutter besucht, um mit ihr über den Mord an Ritter zu sprechen. Ich interessiere mich für den genauen Tatablauf. Ihre Mutter hatte an jenem Tag Dienst, und da sie nach wie vor in Bowlington lebte, bin ich zu ihr gefahren. Ich habe mich auch mit zwei anderen ehemaligen Zimmermädchen unterhalten, die Namen kann ich Ihnen geben. Mehr habe ich nicht getan, ich schwöre es Ihnen.«
»Okay, ich glaub Ihnen. Haben Sie eine Ahnung, wer es gewesen sein kann?«
»Noch nicht. Aber das will ich rauskriegen, das hat bei mir jetzt allerhöchste Priorität.«
Sie bedankte sich bei Tony Baldwin und beendete das Gespräch.
»Den Mund mit Geld voll gestopft…«, wiederholte King nachdenklich.
»Das war das Geld, das sie von mir hatte!«, erklärte Michelle bedrückt. »Ich habe ihr die fünf Zwanzigdollarnoten für die Beantwortung meiner Fragen gegeben.«
King rieb sich das Kinn. »Okay, ein Raubmord war es also nicht. Die Täter hätten das Geld sonst mitgenommen. Aber sie haben das Haus durchwühlt. Sie haben etwas gesucht.«
»Aber ihr die Scheine in den Mund zu stopfen! Mein Gott, ist das grässlich!«
»Vielleicht nicht so grässlich wie eine Aussage.«
Sie sah ihn fragend an.
»Was für eine Aussage?«
»Eine tödliche – für beide. Wer hätte das gedacht?«
»Was meinen Sie damit?«
»Kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Warum nicht, verdammt noch eins?«
»Weil ich noch ein bisschen darüber nachdenken muss, deshalb. Das ist eben mein Arbeitsstil.«
Michelle warf frustriert die Arme hoch. »Mein Gott, Sie können einen wirklich verrückt machen!«
»Danke, ich tue mein Bestes.« King sah eine Zeit lang zum Fenster hinaus, bevor er sich wieder rührte. »Okay, das ist eine Kleinstadt hier. Über kurz oder lang werden wir Verdacht erregen, vor allem, weil überall Polizisten herumwuseln. Fahren wir also ein Stück raus und suchen uns eine Bleibe. Hingehen können wir erst am späten Abend.«
»Hingehen? Wohin denn?«
Er sah sie an. »Ich kann genauso nostalgisch sein wie jeder andere.«
Michelle verzog das Gesicht. »Fällt es eigentlich allen Anwälten so schwer, auf eine direkte Frage eine direkte Antwort zu geben?«
»Na gut, ich denke, es ist an der Zeit, dem Fairmount-Hotel einen Besuch abzustatten. Ist Ihnen das direkt genug?«
KAPITEL 27
Sie näherten sich dem Hotel von hinten und achteten darauf, den Schutz der dicht stehenden Bäume nicht zu verlassen. Sie waren identisch gekleidet und bewegten sich synchron. Am Waldrand blieben sie stehen und suchten mit ihren Blicken das freie Gelände zwischen Wald und Hotelzaun ab. Als sie sicher waren, dass sich kein Mensch dort aufhielt, verließen sie ihre Deckung, rannten zum Zaun und kletterten hinüber. Einer der beiden zog eine Pistole. Ihr nächstes Ziel war die Rückseite des Hotels. Sie fanden einen Nebeneingang, brachen die Tür auf und waren Sekunden später im dunklen Innern des Gebäudes verschwunden.
Sean King und Michelle Maxwell parkten ein gutes Stück vom Hotel entfernt und gingen den Rest der Strecke zu Fuß. Kurz bevor sie das Gebäude erreichten, mussten sie im angrenzenden Wald Deckung suchen, weil der Polizeihubschrauber mit seinem rastlos über den Boden streifenden Suchscheinwerfer über ihre Köpfe hinwegbrauste.
»Das ist ja richtig aufregend«, sagte Michelle, als sie wieder aus dem Wald herauskamen und auf den Zaun zugingen. »Abwechslungshalber mal auf der anderen Seite der Fahndung zu stehen, das hat schon was für sich.«
»Ja, ja, ich spüre einen Kick nach dem anderen. Allein schon die Vorstellung, ich müsste jetzt zu Hause bei einem schönen Glas Viognier vor dem Kaminfeuer sitzen und Proust lesen… Aber nein, ich kann ja stattdessen frohgemut durch die reizvolle Umgebung von Bowlington, North Carolina, schleichen und mit einem Polizeihubschrauber Haschmich spielen.«
»Erzählen Sie mir nicht, dass Sie zum
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