Sean King 03 - Im Takt des Todes
meinem Fall sitzen bleiben – und sagen: ›Hi, ich bin Sandy, und ich hab ’nen Sprung in der Schüssel, aber ich will was dagegen tun. Deshalb bin ich hier.‹ Und dann klatschen alle, werfen einem Küsse zu und sagen einem, wie tapfer man doch sei. Anschließend krieg ich ’ne Schlaftablette, bin für zehn Stunden weg vom Fenster, stehe wieder auf und mache das Ganze von vorn.«
»Hört sich nach Routine an.«
»Oh, Schätzchen, inzwischen bin ich an dem Punkt angelangt, wo ich die Fragen schon kenne, noch ehe sie gestellt werden. Es ist ein richtiges Katz-und-Maus-Spiel, nur dass die Typen hier noch nicht bemerkt haben, dass ich die Katze bin und sie die Maus.«
»Haben Sie je versucht, darüber zu sprechen, was wirklich Ihre Depressionen verursacht?«
»Teufel, nein, das wäre viel zu kompliziert. Die Wahrheit wird mich nicht befreien, sie wird die Selbstmordgefährdung nur steigern. Solange sie mich hier nicht rauslassen, tanze ich meinen kleinen Tanz.« Sie schlug auf die Räder ihres Rollstuhls. »Bildlich gesprochen, versteht sich. Die gute alte Sandy lässt sich mit dem Strom treiben – solange sie mir meine Pillen geben.«
»Haben Sie schlimme Schmerzen?«
»Wenn man Ihnen sagt, dass Sie von der Hüfte abwärts gelähmt sind, denken Sie: ›Mensch, das ist wirklich Scheiße, aber wenigstens spüre ich nicht mehr, wenn mir was wehtut.‹ Nur ist das leider völliger Quatsch. Sie sagen einem nämlich nicht, wie schmerzhaft die Lähmung an sich schon ist. Die Kugel, die mir die Beine genommen hat, steckt noch in meinem Körper. Die Quacksalber haben gesagt, sie sei zu nahe an meinem Rückgrat, als dass man sie rausoperieren könnte. Es steckt in mir drin, dieses kleine Neun-Millimeter-Miststück, und jedes Jahr bewegt es sich ein wenig. Was sagt man dazu? Ich kann mich nicht bewegen, dieses Ding aber schon. Was dem Fass jedoch den Boden ausschlägt, ist noch etwas anderes: Diese Kurpfuscher haben mir gesagt, ich könnte tot umfallen oder jedes Gefühl im Körper verlieren, wenn die Kugel eine bestimmte Stelle in meinem Rückgrat erreicht. Na? Wie ist das? Ist das nicht zu verrückt, um es in Worte zu fassen?«
»Tut mir wirklich leid«, sagte Michelle. »Meine Probleme sind wohl doch nicht so groß.«
Sandy winkte ab. »Lassen Sie uns frühstücken gehen. Von den Eiern kriegt man Ausschlag, und der Speck sieht aus wie Reifengummi und schmeckt noch abscheulicher, aber wenigstens ist der Kaffee heiß.«
Nach dem Frühstück traf Michelle sich mit Horatio.
»Ich habe noch mal mit Ihrem Bruder Bill gesprochen.«
»Wie geht es ihm?«
»Gut. Er sieht Sie allerdings nicht sehr oft, und das gilt auch für den Rest Ihrer Familie.«
»Wir haben alle viel zu tun.«
Horatio reichte Michelle einen Brief von ihrer Mutter.
»Ich war in Ihrer und Seans Wohnung. Von da hab ich den Brief mitgenommen. Die Wohnung ist nett. Nicht so zugemüllt wie Ihr SUV . Wo wir gerade davon reden … Haben Sie je darüber nachgedacht, Ihren Toyota mal aufzuräumen? Nur um dem Ausbruch einer Pestepidemie vorzubeugen, meine ich.«
»Mein Wagen ist vielleicht ein bisschen unordentlich, aber ich weiß, was wo ist.«
»Ja, zwei Stunden, nachdem ich mexikanisch gegessen habe, weiß ich auch, was sich in meinem Enddarm befindet. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es auch sehen will. Wollen Sie nicht den Brief von Ihren Eltern lesen? Er könnte wichtig sein.«
»Wenn es so wäre, hätten sie mich schon auf anderem Weg erreicht.«
»Halten sie Kontakt zu Ihnen?«
Michelle verschränkte die Arme vor der Brust. »Ah, heute ist Seelenklempners Elternsprechtag.«
Horatio hielt seinen Notizblock in die Höhe. »Hier steht, dass ich Sie das fragen muss.«
»Ich rede mit meinen Eltern.«
»Aber Sie besuchen sie kaum, obwohl sie gar nicht so weit weg wohnen.«
»Viele Kinder besuchen ihre Eltern nicht. Das heißt aber nicht, dass sie nichts für sie empfinden.«
»Das stimmt. Fühlen Sie sich irgendwie unter Druck gesetzt, weil Sie das einzige Mädchen und Ihre Brüder und Ihr Vater Cops sind?«
»Ich ziehe es vor, das als gesunde Motivation zu betrachten.«
»Okay. Gefällt es Ihnen, dass Sie körperlich so ziemlich jeden Mann fertig machen können, der Ihnen über den Weg läuft?«
»Es gefällt mir, dass ich mich um mich selbst kümmern kann. Die Welt ist voller Gewalt.«
»Und da Sie in der Verbrechensbekämpfung tätig sind, haben Sie vermutlich auch mehr als genug davon gesehen. Und es sind Männer, die die
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