Sean King 03 - Im Takt des Todes
wegen Depressionen zu behandeln, und es war immer das Gleiche. Zum Teufel, wer würde nicht depressiv, wenn er den Herbst seines Lebens an einem Ort wie diesem verbringen müsste? Alte Leute in Rollstühlen und mit Gehhilfen standen wie Packkartons an der Wand. Von weiter den Gang hinunter drang Lachen aus einem Fernseher, während Horatio und Linda Sue zu einem Empfangsschalter gingen. Doch dieses Lachen war nicht laut genug, um das Stöhnen und Jammern der alten Leute zu übertönen, die in dieser von Gestank erfüllten Höhle aus Beton und zerstörten Hoffnungen eingepfercht waren.
Linda Sue ging festen Schrittes voraus und ignorierte das menschliche Elend um sie herum.
Zwei Minuten später waren sie im Zimmer von Linda Sues Großmutter, einem drei mal drei Meter großen Verschlag mit Fernseher, der jedoch nicht zu funktionieren schien. Die Zimmergenossin der alten Frau war nicht da, doch Linda Sues Großmutter saß in einem karierten Hausmantel auf dem Stuhl, die geschwollenen Füße in alten Slippern. Ihr graues Haar – was davon übrig war – wurde von einem Netz plattgedrückt. Ihr Gesicht war eingefallen und faltig, die Zähne, von denen die meisten abgebrochen waren, waren gelb und fleckig. Doch ihr Blick war klar und fest. Er wanderte von Linda Sue zu Horatio und wieder zu ihrer Enkelin.
»Ich habe dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, Lindy«, sagte die alte Frau mit deutlichem Südstaatenakzent.
Linda Sue schien diese Bemerkung tatsächlich aus der Fassung zu bringen. »Ich war beschäftigt. Du weißt schon … die Kinder, der Mann.«
»Welcher Mann? Der Kerl, der gerade im Gefängnis ist, oder der andere, der gerade rausgekommen ist?«
Horatio musste sich ein Lachen verkneifen. Die alte Dame litt eindeutig nicht unter Demenz.
»Dieser Mann hier«, sagte Linda Sue und deutete auf Horatio. »Er will was über irgendwelche Leute wissen, die in unserem Viertel gelebt haben, als du noch da gewohnt hast.«
Die Großmutter schaute Horatio an. Ihre alten Augen blickten fasziniert, was Horatio nicht entging. Vermutlich hieß sie alles willkommen, was sie von ihrem trostlosen Umfeld ablenkte.
»Ich bin Horatio Barnes«, sagte er und schüttelte der alten Frau die Hand. »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Danke, dass Sie Zeit für mich haben.«
»Hazel Rose«, erwiderte die alte Dame. »Zeit ist das Einzige, wovon man hier genug hat. Nun, über wen wollen Sie etwas wissen?«
Horatio erzählte ihr von den Maxwells.
Hazel nickte. »Ich erinnere mich an sie. Frank Maxwell sah verdammt gut aus in seiner Uniform, und ihre Jungs … alles große, hübsche Kerle.«
»Und die Tochter? Erinnern Sie sich auch noch an sie?«
»Ja. Warum sagen Sie mir nicht, warum Sie das alles wissen wollen?«
»Sie würden es langweilig finden.«
»Ich bezweifle, dass es diesen Ort hier an Langeweile übertreffen könnte. Fahren Sie also bitte fort, und tun Sie einer alten Frau den Gefallen.«
»Die Familie hat mich engagiert, um etwas herauszufinden … etwas, das geschehen sein muss, als Michelle ungefähr sechs Jahre alt war, also vor siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahren.«
»Was soll damals denn geschehen sein?«
»Ich weiß es nicht, aber es muss bei Michelle zu einer dramatischen Persönlichkeitsveränderung geführt haben.«
Linda Sue schnaubte: »Eine Sechsjährige hat keine Persönlichkeit.«
»Im Gegenteil«, widersprach ihr Horatio. »Mit sechs Jahren bildet sich die endgültige Persönlichkeit eines Kindes heraus.«
Linda Sue schnaubte erneut und begann, an ihrer Börse herumzufummeln, während Horatio seine Aufmerksamkeit wieder auf Hazel richtete. »Ist Ihnen damals irgendetwas aufgefallen? Ich weiß, dass es lange her ist, aber es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie sich erinnern könnten.«
Hazel schürzte die Lippen und schien kurz nachzudenken.
Schließlich brach Linda Sue das Schweigen. »Ich geh mal eine rauchen.« Sie stand auf und wedelte mit dem Finger vor Horatio herum. »Und es gibt nur einen Weg hier rein und wieder raus. Denken Sie also nicht mal dran, einfach abzuhauen.« Dann warf sie ihrer Oma etwas zu, was sie vermutlich für ein aufrichtiges Lächeln hielt, und verschwand.
»Wie viel wollen Sie ihr zahlen?«, fragte Hazel, kaum dass ihre Enkelin außer Hörweite war.
Horatio lächelte, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben die alte Frau. »Hundert Dollar, die ich allerdings lieber Ihnen geben würde.«
Hazel winkte ab. »Ich brauche hier kein Geld.
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