Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
Leben erhalten hat.« Er richtete den Finger auf den Arzt. »Machen Sie sie abreisefertig. Mein kleines Mädchen kommt endlich hier raus.«
Quarry unterschrieb einen Berg von Papieren, die das Heim von jeglicher Verantwortung befreiten. Als Tippi schließlich ihr Gefängnis verließ, schien sogar die Sonne. Quarry kniff die Augen zusammen und beobachtete, wie seine Tochter in den Krankenwagen geladen wurde. Er selbst stieg in seinen alten Truck, zeigte dem Heim den Finger und fuhr dem Krankenwagen voran in Richtung Atlee.
Als sie zu Hause eintrafen, war alles bereit. Carlos und Daryl halfen den Sanitätern mit der Trage. Ruth Ann, der die Tränen über die Wangen strömten, und Gabriel beobachteten die Prozession. Die erwachsene Tochter wurde in dasselbe Zimmer gebracht, in dem sie als Kind gelebt hatte. Quarry und seine Frau hatten in dem Zimmer nichts verändert, als Tippi ihren viel zu kurzen Ausflug ins Leben unternommen hatte. College, ein kurzes Praktikum bei einer Marketingfirma in Atlanta ... und dann war sie mit knapp zwanzig ins Pflegeheim gekommen und hatte fortan nur noch mit der Hilfe von Maschinen gelebt.
Doch nun war Quarrys wunderschönes Mädchen wieder zu Hause.
Nachdem eine Krankenschwester Quarrys Geräte überprüft und sichergestellt hatte, dass sie richtig angeschlossen waren, verschwand der Krankenwagen wieder. Anschließend schloss Quarry die Tür, setzte sich neben Tippi und nahm ihre Hand.
»Du bist zu Hause, meine Kleine. Daddy hat dich wieder nach Hause geholt, Tippi.«
Er hob ihre Hand und deutete damit auf verschiedene Gegenstände im Zimmer.
»Da ist die blaue Schleife, die du für das Gedicht bekommen hast. Und da drüben ist das Kleid, das deine Mutter für deinen Abschlussball geschneidert hat. Du hast sehr hübsch darin ausgesehen, Tippi. Mit dem Kleid wollte ich dich gar nicht aus dem Haus lassen. So sollten die Jungs dich nicht sehen. So schön.« Er richtete ihre Hand auf ein Foto in einem kleinen Bücherregal.
Das Bild zeigte ihre ganze Familie. Mom, Dad und die drei Kinder, als sie noch klein waren. Daryl war noch nicht dick; er hatte nur ein bisschen Babyspeck. Suzie stand in der Mitte und schaute wie immer trotzig drein. Und dann war da Tippi. Sie trug einen Hut aus Zeitungspapier und einem Lederband. Sie hatte ihn sich schief auf den Kopf gesetzt, und ihr blondes Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Sie hatte dieses wunderbare Lächeln aufgesetzt, und ihre Augen funkelten schelmisch. Es gab nicht viel, was Quarry heutzutage noch zum Weinen bringen konnte, aber wenn er dieses Foto von Tippi sah, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatte, mit diesem komischen Hut und nicht ahnend, welche Tragödie sie alle würden ertragen müssen, dann traten dem Mann die Tränen in die Augen.
Sanft legte Quarry die Hand seiner Tochter aufs Bett und stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Sein Mädchen war zu Hause, und das würde er genießen, solange er konnte. Und dann würde er den nächsten Brief schreiben.
Quarry drehte sich wieder zu Tippi um und lauschte dem mechanischen Pumpen der Maschine, die Luft in ihre Lunge drückte und ihr Herz schlagen ließ. Dann blickte er wieder zu dem Foto, und indem er kurz die Augen schloss und wieder öffnete, gelang es ihm, die Tippi auf dem Foto mit der im Bett in Einklang zu bringen. In seiner Fantasie ruhte seine Tochter sich nur aus, und zumindest in seinem Kopf würde sie wieder aufwachen, ihren Vater umarmen und ihr Leben weiterleben.
Quarry ließ sich auf einen Stuhl sinken, schloss erneut die Augen und blieb noch ein wenig in dieser anderen Welt.
57.
M ichelles Telefon klingelte erneut. Sie warteten nun schon seit zwei Tagen auf einen Anruf von Seans Kumpel von der Army, doch offensichtlich war es nicht so leicht, aus drei Staaten die Akten von Deserteuren zu besorgen.
»Wer ist das?«, fragte Sean und lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück.
»Die gleiche Nummer, die mich schon einmal angerufen hat. Da habe ich auch nicht gewusst, wer es ist.«
»Du kannst doch drangehen. Wir sitzen hier ohnehin nur herum.«
Michelle zuckte mit den Schultern und nahm ab. »Hallo?«
»Michelle Maxwell?«
»Ja. Wer ist da?«
»Mein Name ist Nancy Drummond. Sie haben mir eine Nachricht wegen Ihrer Mutter hinterlassen. Ich war eine Freundin von ihr.«
»Aber das ist doch nicht die Vorwahl. Und die Nummer gehört laut Anzeige einer Tammy Fitzgerald.«
»Oh, tut mir leid. Daran habe ich nicht gedacht. Ich benutze das Handy meiner
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