Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
Kante hinunter.
»Gott steh uns bei«, sagte Diane. Vor ihnen ging es steil, beinahe senkrecht hinunter. »Das schaffe ich nie.«
»Ich werde es auf jeden Fall versuchen«, erklärte Willa. »Ob Sie hier ein Versteck finden können? Wenn ich's schaffe, von hier wegzukommen, hole ich Hilfe.«
Diane schaute sich um. »Ja, ich glaube, das geht.« Sie blickte noch einmal über die Kante in die Tiefe. »Willa, das wirst du nicht überleben. Das geht nicht.«
»Ich muss.«
Willa packte einen Felsen, tastete mit dem Fuß nach einem schmalen Vorsprung und machte den ersten Schritt nach unten. Der Vorsprung hielt, auch wenn ein paar Kiesel und Sand die Wand hinunterfielen und vom Wind verwirbelt wurden.
»Sei vorsichtig!«, flehte Diane.
»Ich versuch's«, keuchte Willa. »Das ist wirklich schwer.«
Sie ließ sich zu einem weiteren Vorsprung hinunter und wollte gerade weiter, als der Fels, auf dem sie stand, plötzlich nachgab.
»Willa!«, schrie Diane.
Das Mädchen griff nach allem, was Halt versprach, doch sie bekam nur lose Erde zu packen, und Steine prasselten auf sie ein.
»Hilfe!«
Diane wurde beiseite gestoßen, als der Mann an ihr vorbeistürmte, den Arm ausstreckte und Willa am Handgelenk packte - eine Sekunde, bevor sie verloren gewesen wäre.
Willa wurde wie ein Fisch aus dem Meer in die Höhe gezogen. Als sie auf dem Boden lag, schaute sie hinauf in das Gesicht ihres Retters.
Sam Quarry sah gar nicht glücklich aus.
31.
M ichelle starrte auf die Leiche ihrer Mutter. Die Autopsie war beendet, und auch wenn noch ein paar Untersuchungsergebnisse ausstanden, war jetzt bereits klar, dass Sally Maxwell keines natürlichen Todes gestorben war. Sie war durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden.
Michelle hatte mit dem leitenden Gerichtsmediziner gesprochen. Da ihr Bruder Sergeant bei der hiesigen Polizei war, hatte sie Zugang zu Stellen bekommen, die ihr ansonsten verschlossen geblieben wären. Die Familien von Mordopfern erhielten üblicherweise nur offizielle Beileidsbekundungen und ein bisschen Zeit allein mit ihren Toten, aber keine Fakten. Der Grund dafür war so einfach wie beunruhigend: Häufig fanden Morde innerhalb der Familie statt.
Der Pathologe hatte sich knapp ausgedrückt, doch seine Aussage war unmissverständlich gewesen. »Ihre Mutter ist nicht gestürzt und hat sich den Kopf aufgeschlagen. Dafür war die Wunde zu tief. Der glatte Betonboden hätte eine solche Verletzung nicht hervorrufen können, und am Türgriff oder dem Treppengeländer fanden sich keine Spuren. Außerdem hätten die Kanten auch nicht zum Wundprofil gepasst.«
»Was genau war das denn für ein Profil?«
»Ich sollte eigentlich nicht mit Ihnen darüber reden«, erwiderte der Arzt gereizt.
»Bitte. Es geht um meine Mom. Ich bin dankbar für jede Hilfe, die Sie mir geben können.« Das Flehen schien den Mann zu rühren.
»Es war ein ungewöhnliches Profil. Ungefähr zehn Zentimeter lang und einen Zentimeter breit. Müsste ich raten, würde ich auf Metall tippen. Aber es war von der Form her wirklich seltsam.«
»Also wurde sie eindeutig umgebracht.«
Der Pathologe schaute Michelle durch seine Brille hindurch an. »Ich mache das jetzt schon seit dreißig Jahren, aber ich habe noch niemanden gesehen, der sich selbst durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand tötet und die Waffe nach seinem Tod dann so gut versteckt, dass die Polizei sie nicht mehr finden kann.«
Anschließend war die Leiche von Michelles Mutter freigegeben und an ein Bestattungsinstitut überstellt worden. Michelle war noch einmal hergekommen, um ihre Mutter zu sehen, bevor sie für die Beerdigung zurechtgemacht wurde. Eine Decke verhüllte sie bis zum Hals; deshalb war zum Glück der y-förmige Schnitt nicht zu sehen, den der Gerichtsmediziner vorgenommen hatte.
Michelles Brüder hatten sie nicht begleiten wollen. Als Polizisten wussten sie, dass eine Leiche nach der Autopsie wie die andere aussah, besonders, wenn der Tod bereits achtundvierzig Stunden zurücklag. Die Phrase »Schönheit geht nicht tiefer als die Haut« war nirgends passender als hier. Nein, Michelles »harte« Brüder wollten warten, bis der Körper künstlich aufgefrischt, geschminkt, elegant gekleidet und in einem Dreitausend-Dollar-Sarg aufgebahrt war.
Michelle wollte sich aber nicht so an ihre Mutter erinnern; deshalb war sie hier. Sie musste sehen, welche Gewalt der Frau angetan worden war, die ihr vor über dreißig Jahren das Leben geschenkt hatte. Michelle
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