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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Chef. Während des Krieges hatte er bei den Sperrtruppen * gedient und war mächtig stolz darauf. Im Profil sah sein Wirsing wie ein Holzhammer aus: Stirnund Hinterkopf hatten die gleiche Form. Die winzigen bösen Augen versteckten sich unter dem vorstehenden Stirnbein und waren bei schwachem Licht nicht zu erkennen. Von der eingesunkenen Syphilitikernase war kaum noch was übrig. Den Unterkiefer hatte ihm jemand nach innen gedrückt, so dass es manchmal aussah, als ob der kleine Mund direkt im Hals saß.
    Zuallererst wurde der Fragebogen ausgefüllt. Name, Vorname, Vatersname, woher, wohin, wozu, mit wem, warum usw … Ich verheimlichte nichts, legte alles dar: aus dem Tscheljabinsker Kinderheim weggelaufen, will nach Hause zu meiner Mutter nach Piter, jetzt hier gelandet. Die Mutter heißt Bronia. Aber meine Eröffnungen scherten Tylytsch nicht. Ihn interessierte, wie ich zur Macht stand, zu den Natschalniks, und ob ich bereit sei, ihnen zu helfen. Er wollte mich zum Spitzeln verleiten, indem er mit einer Zusatzration lockte. Ich musste mich dumm stellen, wie die Ganoven es mir in der Freiheit beigebracht hatten, und erklärte ihm, dass ich lungenkrank wäre und unter psychiatrischer Beobachtung stünde, dass ich außerdem schwer von Begriff wäre und für normale Aufgaben ungeeignet.
    Tylytsch spielte den Natschalnik bis Mitte Dezember. Im Dezember kriegten wir einen anderen, einen richtigen Natschalnik: kurzgeschorene Haare, breite Nase und kleine runde Augen, ein zwergenhaftes Monster, das gleich in den ersten Tagen den Spitznamen Grunz bekam. Der schmierige Mickerling stellte vor aller Augen den Erzieherinnen, Krankenschwestern und sogar den Putzfrauen nach und verlangte von ihnen, mit ihm zu schlafen. Wir waren für ihn nichts wert, eine ArtMüll. Der Grunz soff, randalierte, drang nachts in unsere Schlafräume ein und brüllte: »Aufstehn, ihr Feinde! Alle auf die Knie, ihr Hunde! Wird’s bald! Ich mach euch fertig, ihr Lauseeier! Wer von euch hat mich angeschwärzt, na, ihr Schlangenbrut? Los, antwortet, ihr Schmarotzer! Ich lass euch hier knien, bis ihr redet!«
    Nach seiner Brutalität zu urteilen, war er ein ehemaliger Krimineller, der dem NKWD große Verbrecher ans Messer geliefert hatte und zur Belohnung in den Dienst der Behörde aufgenommen worden war. Ganz besonders viehisch benahm er sich an den Feiertagen, genauer, in den Nächten danach, prügelte mit den Fäusten auf uns ein. Wir wurden immer wütender, verwandelten uns in böse kleine Bestien und waren in unserer Verzweiflung schon entschlossen, trotz der Winterkälte aus dem Kinderheim zu fliehen.
    Nachdem er sich im Heim ausgetobt hatte, fiel er in der Stadt besoffen über die hübsche Tochter eines hohen NKWD-Offiziers her und wurde nie wieder gesehen. unsere Gebete waren erhört worden. Tylytsch war bei all seinen Macken besser.
Triefende Fahnen
    An den Donnerstagen mussten wir unter der Führung von Tylytsch in Reih und Glied zum Dampfbad der Eisenbahner marschieren. Als zweiter Aufpasser ging mit, wer grade Dienst hatte.
    Die schon unterm Zaren aus roten Ziegeln erbauten Dampfbäder lagen nicht weit entfernt. Wir mussten nurdie Straße mit den altertümlichen ebenerdigen oder einstöckigen Häusern hinuntergehen und die Bahngleise überqueren, schon sahen wir sie vor uns. An Feiertagen war die Straße wie vorgeschrieben mit roten Fahnen geschmückt.
    1947, kurz vor dem Tag des Sieges, mussten wir wieder mal zum Waschen antreten. Das Wetter war an diesem Maitag außergewöhnlich heiß und schwül. Im Dampfbad war es kühler als draußen.
    Nach dem Waschen marschierte unsere Kinderabteilung erneut durch das Schwitzbad der Straße zurück auf unsere Anhöhe. Auf halbem Weg zum Heim wurde der Himmel über der Stadt plötzlich schwarz. Lautes Donnergrollen kam immer näher, dann fielen große Regentropfen auf die festlich geschmückte Straße. Wir hatten Glück, denn wir waren gerade vor einem alten Permer Haus, das eine Vortreppe mit hölzernem Dach hatte. Kaum hatten wir uns untergestellt, krachte ein fürchterlicher Donnerschlag. Der Baum gegenüber wurde vom Blitz getroffen und brach nieder, und Wasserfluten stürzten herab. Die plötzlich entfesselte Natur ließ uns Jungs eng zusammenrücken, und wir schützten den Kopf mit den Händen, aus Angst, das Holzdach könnte einstürzen.
    Grelle Blitze zuckten durch die Dunkelheit, dort, wo unser Kinderheim stand.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange wir eng aneinandergepresst auf dieser

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