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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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überdachten Vortreppe standen. Aber kaum ließ der Regen etwas nach, schrie unser kleiner Streithammel verwundert auf.
    »Kuckt mal, kuckt mal!«, rief er. »Was ist das? Roter Regen!«
    Wir blickten auf. Von den beiden Fahnen, die rechts und links die Vortreppe zierten, troff eine rote Flüssigkeit zu Boden. Auch allen anderen Fahnen entströmte rotes Wasser. Verständnislos bestaunten wir die rätselhafte Erscheinung, dann ging unserem Zerberus ein Licht auf.
    »Sie entfärben sich!«, rief er bestürzt. »Die Fahnen verblassen! Ach du Schande, da haben sie mit dem Salz gespart, die Halunken.«
    Doch dann merkte er, dass wir die Ohren spitzten, und fürchtete wohl, sich um Kopf und Kragen zu reden.
    »Zu zweien angetreten, Kolonne!«, brüllte er. »Im Laufschritt marsch, ihr Feindsbrut!«
    Wir rannten bergan durch die Straße der triefenden Fahnen. Der Regen hörte auf. Die Sonne kam heraus. Sie beschien uns von hinten.
Ihr Name ist Maria
    Meine erste Flucht aus dem Molotower Kinderheim scheiterte. Der Weg nach Westen führte nur über Kirow – Wjatka. Mich hatte der Teufel geritten, einen Arbeiterzug zu besteigen, der dorthin fuhr. Es zeigte sich nämlich, dass im Zug nicht nur Arbeiter waren, sondern auch Bahnbullen und Kontrolleure. Sie erwischten mich und übergaben mich den Polypen mit den schwarzen Achselklappen, die brachten mich zurück nach Molotow und lieferten mich bei den brutalen Wächtern des Kinderheims ab.
    Zwei der Kerle prügelten mich gleich in der Wachbude halbtot. Ich würde das wohl nicht überstanden haben,hätte mir nicht der Zufall geholfen – einer der beiden war Weißrusse.
    Schon fast bewusstlos, nahm ich Abschied vom Leben, ich betete und bekreuzigte mich auf polnische Weise. Da gebot der Weißrusse dem anderen innezuhalten.
    »Halt«, schrie er, »lass ihn, hör auf! Kuck doch, er bekreuzigt sich, nimmt Abschied von der Welt! Hör auf, sonst versündigen wir uns!«
    »Weshalb bekreuzigt er sich nicht so wie wir? Ist er ein Muselmann oder was?«
    »Es reicht, hör auf, du gibst ihm noch den Rest. Siehst doch, er betet zu Gott.«
    Der Prügler packte mich am Schlafittchen, schleifte mich in den Karzer und schmiss mich auf eine dreckige Wattejacke.
    Durch die Kälte kam ich nach einer Weile zu mir, ich schlotterte. Aufstehen konnte ich nicht, blieb lange auf allen vieren und setzte mich dann auf die linke Hinterbacke – die rechte war ganz zerschlagen. Schließlich kroch ich zur Ziegelwand und versuchte, an ihr auf die Füße zu kommen. Bei diesem Bemühen fand mich der sommersprossige Wächter.
    »Na, du Ausreißer, krabbelst ja schon wieder, verdammter Lümmel …«
    Im Vorgefühl erneuter Schläge bekreuzigte ich mich mechanisch.
    »Wieso bekreuzigst du kleiner Strolch dich nicht russisch?« Er kam auf mich zu und hielt mir seine riesige behaarte Faust unter die Nase. »Rede, du kleine Schmeißfliege, wer hat dir beigebracht, dich so zu bekreuzigen?«
    Das Sprechen fiel mir nach den Schlägen noch schwer. »Meine Matka Bronia, meine Matka«, stieß ich mühsam hervor.
    »Ach … bist keiner von uns, kein Russe …«
    Hinter ihm zeigte sich sein Kumpan von gestern, der Weißrusse.
    »Es reicht, tu ihm nichts. Er ist ein Pole. Letzte Nacht hat er im Schlaf polnisch geredet, ich hab’s gehört, und er bekreuzigt sich wie die Katholiken – mit der flachen Hand. Ich weiß das, bei uns zu Hause waren viele von denen, die bekreuzigen sich alle so. Er hat genug, so ein schwaches Kerlchen, du hättest ihn beinahe totgeschlagen. Polen ist volksdemokratisch geworden. Der Vorsitzende Bierut * ist in den Kreml gekommen, seine Aufwartung machen. Tja, so schnell ändert sich alles. Wir sollten dem Kleinen lieber nichts tun, sonst, wer weiß …«
    Nach den Schlägen und dem kalten Karzer wurde ich schwer lungenkrank und wäre beinahe draufgegangen. Der weissrussische Zerberus schleppte mich in den Isolator und holte die Ärztin. Ich hatte Glück. Die Doktorsche stammte aus Leningrad. Ihre Familie war schon 1934 in den Ural verbannt worden. Sie nahm mich, ihren Landsmann, ins Krankenhaus auf und pflegte mich gesund. Das Krankenhaus habe ich als ein Paradies auf Erden in Erinnerung, und der Name meiner Lebensretterin ist heilig – Maria, der Name der Matka Boska, der Gottesmutter.
Japonamat 7
    Einen Menschen jedoch mochte und achtete das Völkchen der Molotower Heimkinder ganz besonders, nämlich den estnischen Wirtschaftsleiter und Wäscheverwalter Tomas Karlowitsch. Er war trotz seiner

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