Sechs Richtige (German Edition)
komm ich mal vorbei», sagte Marko jetzt und knackte wieder mit der Flasche. «Helgoland …», er atmete aus. «Da wollte ich schon immer hin», sagte er dann sarkastisch. «Viel lieber als in die Karibik.» Mit seiner Mutter – die Eltern waren geschieden – fuhr er regelmäßig dorthin. Sie hatte ein Faible für Barbados, Antigua oder Tobago, und für Marko gab es Schlimmeres. Mit seinem Vater fuhr er dafür gern Ski oder machte Städtetrips. Und zu seinem 20 . Geburtstag hatte der Vater ihm eine kleine Weltreise versprochen. Zwei Monate wollten die beiden dann unterwegs sein. Vanessa hatte Angst davor gehabt, dass sie sterben würde, wenn sie so lange von ihm getrennt wäre, aber jetzt, wo sie ja sowieso wegmusste, war das auch egal. Sie würde eh nicht zurückkommen. Wer überlebte schon ein Jahr auf Helgoland? Diese Knieper würden sie bestimmt fressen. Aber Marko würde vorher vorbeikommen. Er liebte sie also wirklich. Das war das Wichtigste. Ach je, sie war ganz durcheinander.
«Wann willst du denn kommen? Gleich im August?», fragte sie beruhigt.
Marko zuckte mit den Schultern. «Ich muss zu Hause erst mal schauen, wann ich überhaupt da bin.»
Irgendwie hatte Vanessa ein komisches Gefühl, aber sie achtete nicht weiter darauf, weil sie komische Gefühle hatte, seitdem sie wusste, dass sie umziehen musste.
«Das Wetter ist in der Tat ungewöhnlich für diese Jahreszeit», sagte Finn Hansen, ein Angestellter auf dem Schiff, und tippte an seine Mütze. «Aber was will man machen.»
Hanno Prönkel nickte und drehte sich zu seiner Familie um, die hinter ihm stand. Alle waren weiß im Gesicht, und Astrid sah so aus, als würde sie gleich tot umfallen.
Der Abschied von den Frankfurter Freunden war grauenhaft gewesen, zumindest für Antonia, Vanessa und für Jan. Dazu kam noch, dass Jan und Vanessa unter einem solchen Liebeskummer wegen Mia und Marko litten, dass sie das Gefühl hatten, das nicht überleben zu können. Eine Zeitlang hatten Hanno und Astrid noch versucht, alle aufzuheitern, aber irgendwann wurde es ihnen zu blöde. Sie waren zermürbt und wünschten sich, allein nach Helgoland zu ziehen und ihre Brut sonst wo abzugeben.
«Schade eigentlich, dass es keine Babyklappen für ältere Kinder gibt», hatte Astrid irgendwann gesagt. «Es wäre doch herrlich, wenn es Klappen nach Jahren gäbe. Sie haben eine 15 -jährige Tochter, die Ihnen nur Ärger macht? Klappe Nummer drei bitte. Und tschüs.»
Hanno hatte gelacht. «Du wärst die Erste, die ins Haus rennen und die Kinder wieder rausholen würde, nachdem du sie reingestopft hättest.»
«Auch wieder wahr.» Astrid hatte gegähnt. «Ich werde jetzt einfach eine Zeitlang so tun, als sei ich taub.»
Sie waren am Nachmittag davor mit dem Zug aus Frankfurt abgefahren, wo es hochsommerlich warm gewesen war. Je weiter sie in den Norden kamen, desto schlechter wurde das Wetter. Auf Höhe Kassel wurde es trüb, in Göttingen fing es an zu regnen, in Hannover schüttete es, und als sie in Hamburg ankamen, peitschte der Wind den Regen fast waagerecht. Alle Prönkels hatten schlechte Laune. Die Einzige, die noch halbwegs lächeln konnte, war Lilly, aber auch nur, weil sie ein neues Nutellaglas aufgeschraubt hatte.
«In Frankfurt könnten wir jetzt am Main sitzen», meckerte Vanessa, die fast die ganze Fahrt über leise vor sich hin geheult hatte. Der Abschied von Marko war wirklich viel schlimmer gewesen, als wenn sie im amerikanischen Bürgerkrieg ein Bein verloren hätte. Marko selbst war relativ cool gewesen. Fast schon
zu
cool. Aber er wollte in ein paar Wochen «rüberkommen», wie er es nannte. Wann genau, wusste er noch nicht. Astrid, die Marko ja nicht mochte, hätte ihm am liebsten in sein arrogantes Gesicht geschlagen. Der Abschied fiel von ihrer Seite sehr unterkühlt aus. Vanessa, die sich (ob aus Trotz oder wegen Wahrnehmungsstörungen) die Haare kurz vor der Abfahrt schwarz gefärbt hatte, sah aus wie eine Gothic-Anhängerin, die einen schlechten Tag hatte. Sie sagte irgendwann gar nichts mehr, sondern starrte nur stumm und böse in der Gegend herum.
Jan simste mit Mia, als ginge es um sein Leben. Auf Höhe der Kasseler Berge hatte das Smartphone teilweise keinen Empfang, und daran waren natürlich auch die Eltern schuld. Er strafte beide mit Missachtung und Schweigen, beantwortete keine Fragen und hatte sich von seinem Vater quasi in den Zug tragen lassen, weil er von selbst keinen Fuß vor den anderen setzte. Hanno fand das aber gar
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