SECHS
aus dem Staub zu machen. Schließlich stand dort kein Name drauf und damit war derjenige Gewinner, der das Papier vorlegen konnte.
Doch er mahnte sich zur Besonnenheit. Das würde nur Staub aufwirbeln. Spätestens dann, wenn er den Gewinn für sich in Anspruch nehmen wollte. Diese Frau schien im Moment zwar nicht ganz bei Sinnen, aber er schätzte, sie würde ihm trotzdem die Polizei auf den Hals hetzen. Und die würden schnüffeln. Rentsch räusperte sich.
„Äh ... ja ... wie auch immer. Es ist jetzt wichtig, dass Sie mir genau zuhören.“ Er suchte ihren Blick.
„Okay“, Melanie nickte.
„Sie dürfen mit niemandem darüber reden! Hören Sie? Mit niemandem! Ein Gewinn in dieser Höhe zieht jede Menge Aasgeier an. Sie verstehen, was ich meine?“
„Ja. Davon habe ich schon gehört.“
Jetzt war es an der Zeit, die Zähne ins Fleisch des Opfers zu schlagen.
„Gut. Dann bleiben nur noch die Formalitäten, damit wir Ihren Anspruch prüfen und den Gewinn auch auszahlen können.“
„Welche Formalitäten?“
„Ich brauche Ihre Adresse.“
-75-
Der Mann war weg. Melanie stand noch immer im Foyer, bleiern wie eine Statue. Langsam, aber sicher, überkam sie das Gefühl durchzudrehen. Der Unfall, der Betrug, die Auseinandersetzung mit Fay und jetzt das - dieser Gewinn.
Welche Fragen konnte sie noch stellen, angesichts der vielen, die sich vor ihr auftaten wie die dunklen und verzweigten Gänge einer römischen Katakombe? Viel wichtiger noch: Wer gab ihr Antworten? Sie konnte sich ja nicht einmal selbst eine Antwort darauf geben, was sie nun empfinden sollte. Trauer? Freude? Wut? Hass? Von allem etwas? Und Antworten von Frank? Nein. Der hatte sich gerade zum wiederholten Mal einer solchen verweigert. Mit mehr in der Hand als diesem Zettel hatte sie sein Zimmer nicht verlassen. Er war ihr wortlos überreicht worden und sprachlos war sie daraufhin gegangen.
Sie blickte herab. Noch immer hielt sie die Quittung zwischen den Fingern. Melanie rieb mit dem Daumen darüber, als würde es das Geheimnis seiner Existenz preisgeben, wie die Zauberlampe den Geist.
Die Zahlen! Irgendetwas war mit ihnen! Drei davon schienen ihr irgendwie ... bekannt. Sie kramte aufgeregt in ihrer Handtasche. Wenige Momente später zog sie einen anderen Zettel hervor. Es war der, auf dem Frank mit fremder Schrift notiert hatte, wovon er träumte: 1223383945498. Melanie verglich. Ziffer für Ziffer. Noch zweimal wiederholte sie den Abgleich. Dann erst hatte sie das Muster entdeckt und konnte kaum glauben, was sie da sah. Sie waren es! Kein Zweifel! Die Zahlenreihe aus Franks Träumen stimmte mit den Gewinnzahlen überein, wenn man die einzelnen Ziffern korrekt voneinander trennte. Damit war die Rufnummerntheorie hinfällig! Jetzt stellte sich eine nächste Frage - und die war unheimlich - wie hatte er das gemacht? Diese Zahlen entstammten einem Traum und hatten den Jackpot abgeräumt. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Dann aber erinnerte sie sich an Fälle, von denen sie schon gehört oder gelesen hatte. Menschen, die Lottozahlen träumten und mit ihnen auch gewannen, hatte es bereits gegeben. So war es wohl auch bei Frank. Und damit gaben auch endlich seine wirren Träume einen Sinn.
Sie musste ihm sofort einen weiteren Besuch abstatten. Dieses Mal wollte sie nicht über Lug und Trug reden, sondern darüber, was gerade passiert war. Sie wollte ihm sich, sie wollte ihm seine quälenden Träume erklären.
Ja, sie schöpfte sogar leise Hoffnung, dass damit vielleicht auch die Schwermut von ihm fallen würde und sie endlich ihre Antworten bekommen könnte. Nicht zuletzt überführten seine Antworten dieses Miststück vielleicht der Lüge.
Zu verlieren hatte sie jedenfalls nichts mehr. Denn das Wichtigste war ihr erst einmal genommen: Glaube und Vertrauen. Daran änderten die Millionen nichts, und so hielt sich ihre Freude auch weiterhin in Grenzen.
Melanie drehte auf dem Absatz um.
-76-
Die Tür zu Franks Zimmer öffnete sich. Langsam drehte er den Kopf. Melanie! War sie nicht gerade schon einmal da gewesen?
Frank hörte sich selbst ein „Hallo“ sagen, aber es klang in seinen Ohren gedämpft wie durch eine Decke. Was war nur mit ihm los? Seit Wochen hatte er das Gefühl, nicht er selbst zu sein. Er vergaß vieles, tat und sagte scheinbar Dinge, an die er sich hinterher nicht mehr erinnern konnte. Einzig und alleine seine Träume waren ihm stets präsent.
Der Mann, dessen Stimme, die Stimmen der anderen und die Zahlen. Und
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