See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
die Stirn. »Wie meinst du das?«, wollte sie wissen.
»Naja, es ist so …« Hank begann, das Tuch, mit dem er vorher die Gläser poliert hatte, nervös mit den Händen zu zerknüllen. »Genau weiß ich auch nicht, was mit ihm los ist, und ich habe auch noch niemandem davon erzählt. Aber vor ein paar Wochen war Greg hier und hat sich einen Whisky nach dem anderen reingeschüttet. Er verträgt `ne ganze Menge, da war ich echt baff. Aber irgendwann, als er dann völlig hackedicht war, hat er mir gesagt …« Hank blickte nervös nach rechts und links. Erst als er sicher war, dass keiner der anderen Gäste ihr Gespräch mit anhören konnte, fuhr er fort: »Da hat er mir gesagt, dass er zwei Menschen auf dem Gewissen hat.«
25. Kapitel
Immer noch völlig durcheinander verließ Tess das Lakeview Inn. Draußen blieb sie einen Moment stehen, um durchzuatmen und einen einigermaßen klaren Kopf zu bekommen. Sie konnte es kaum fassen, was sie eben gehört hatte. Greg sollte zwei Menschenleben auf dem Gewissen haben? Was war damit gemeint? Doch nicht etwa Susannah und Claire? Oder sogar – Joanna?
Tess schüttelte verwirrt den Kopf. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Vielleicht hatte Hank sich einfach verhört. Oder Greg hatte Unsinn geredet. Sie nickte. Das war die plausibelste Erklärung. Greg hatte sich beinahe ins Delirium gesoffen und fantasiert.
Aber wenn nicht? Was war, wenn doch etwas Ernsts dahintersteckte?
Eine Weile versuchte Tess, sich den zeitlichen Ablauf der Ereignisse klarzumachen. Greg war vor sechs Jahren nach Shadow Lake gekommen, also ungefähr zu der Zeit, als Millie Walls verschwunden war. Allerdings war der Mord an Joanna schon ein Jahr vorher passiert. Es war also äußerst unwahrscheinlich, dass Greg damit etwas zu tun hatte. Aber was war mit Susannah MacIntyre und Claire Meyers? Meinte er vielleicht die beiden? Oder war vor seiner Zeit in Shadow Lake etwas passiert, bei dem er zwei Menschen getötet hatte?
Irgendwann gab Tess auf. Es hatte keinen Zweck, so kam sie nicht weiter. Ohne weitere Informationen war alles reine Spekulation. Sie musste jemanden befragen, der ihr mehr über Greg Koborski erzählen konnte, aber wer? Es musste jemand her, der sich in Shadow Lake gut auskannte und bereit war, ehrlich mit ihr zu reden.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Nur ein paar Häuser weiter hatte ihre damals beste Freundin Kate mit ihrer Mutter gewohnt. Mit Mrs Reynolds hatte sie sich immer gut verstanden. Vielleicht würde sie ihr weiterhelfen, vorausgesetzt, sie wohnte überhaupt noch hier im Ort. Doch einen Versuch war es sicherlich wert.
Tess ging ein Stück die Hauptstraße entlang und bog dann in die schmale Seitenstraße ein, in der das Haus der Reynolds lag. Es war ein kleines Holzhaus, noch kleiner als das ihrer Tante, mit einem recht flachen Dach und einer sehr schmalen Veranda zur Straße hin. Schon von Weitem fiel Tess auf, dass sich dort Einiges verändert hatte. Die vormals immer schmutzig-weiße Fassade war in einem hellen Blau gestrichen worden, und mit bunten Blumen bepflanzte Kästen hingen am Geländer der Veranda. Im Gegensatz zu früher wirkte alles freundlich und einladend.
Tess verzog enttäuscht das Gesicht. Die Veränderung des Hauses konnte eigentlich nur bedeuten, dass Mrs Reynolds ausgezogen war. Sie hatte sich noch nie besonders um Äußerlichkeiten gekümmert, weder um die der Menschen noch um die ihres Hauses. Trotzdem ging Tess weiter. Da sie jetzt schon einmal hier war, wollte sie wenigstens nachsehen, wer jetzt in dem Haus wohnte.
Sie stieg die drei Stufen zur Veranda hoch, als ihr Blick auf das Schild neben der Tür fiel. Verwundert stellte sie fest, dass dort tatsächlich immer noch Reynolds stand. Sollte sie sich dermaßen geirrt haben? Anscheinend war Mrs Reynolds doch noch häuslich geworden.
Da es keine Klingel gab, klopfte Tess an die Tür und wartete. Im Inneren des Hauses blieb alles still. Tess klopfte noch einmal und lauschte. Jetzt hörte sie etwas. Es waren Schritte. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet – und ihre frühere beste Freundin Kate sah sie an.
Eine Weile standen die beiden sich gegenüber, ohne ein Wort zu sagen. Tess war ein bisschen erschrocken, wie Kate sich verändert hatte, seitdem sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Ihre Freundin war immer ein bisschen pummelig gewesen. Während Tess ihre gesamte Jugend darunter gelitten hatte, zu dünn zu sein, hatte Kate das gegenteilige Problem gehabt. Es hatte keine Diät gegeben,
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