See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
die sie nicht ausprobiert – und schnell wieder abgebrochen – hatte. Jetzt aber war sie nicht nur schlank, sie wirkte regelrecht ausgezehrt. Ihr Gesicht war schmal geworden, und in den Augen lag ein gehetzter Ausdruck.
Kate brach als Erste das Schweigen.
»Na, das ist ja eine Überraschung«, meinte sie in sarkastischem Tonfall. »Mit dir hätte ich als Allerletztes gerechnet.«
»Hallo Kate.« Tess bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu machen, aber nach der abweisenden Begrüßung gelang es ihr nicht ganz. Ihre ehemalige Freundin schien keinen Wert auf ein Gespräch mit ihr zu legen. »Ich wollte eigentlich zu deiner Mutter«, erklärte sie deshalb schlicht.
»Meine Mutter wohnt nicht mehr hier«, gab Kate kühl zurück. »Sie ist vor drei Jahren nach Florida gegangen, um ihren Ruhestand zu genießen.«
»Oh, schön für sie«, stammelte Tess. Sie überlegte einen Moment, dann rang sie sich dazu durch, ihre frühere Freundin um einen Gefallen zu bitten. »Können wir miteinander reden, Kate?«, fragte sie in bittendem Tonfall.
Kate kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Worum geht es denn?«
»Können wir das vielleicht drinnen besprechen?«
Einen Augenblick zögerte Kate, gab dann aber nach. Sie trat einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. »Also gut, komm rein. Aber ich habe nicht allzu viel Zeit.«
»Es dauert nur ein paar Minuten«, versicherte Tess nachdrücklich und betrat das Haus. Auch im Inneren hatte sich viel verändert. Die alten, wuchtigen Möbel von Mrs Reynolds waren durch wesentlich zierlichere aus hellem Holz ersetzt worden, und die Wände waren in freundlichen Pastelltönen gestrichen. Üppige Zimmerpflanzen unterstrichen die gemütliche Atmosphäre.
Aber Tess nahm ihre Umgebung kaum wahr. Sie überlegte, wie es gekommen war, dass ihre Freundschaft mit Kate auseinandergegangen war. Die beiden kannten sich schon seit ihrer Kindergartenzeit und waren immer unzertrennlich gewesen. Egal ob sie Liebeskummer oder Streit mit ihrer Tante gehabt hatte, Kate hatte immer Verständnis und ein paar tröstende Worte für Tess gehabt. Und umgekehrt war Tess auch immer für Kate da gewesen. Aber irgendwann war die Freundschaft in die Brüche gegangen. Es hatte keinen Streit gegeben, keinen besonderen Anlass. Aber mit einem Mal hatte sich Kate Tess gegenüber kalt und abweisend verhalten. So sehr Tess sich auch bemüht hatte, den Grund dafür herauszufinden, Kate hatte sie einfach nicht mehr an sich herangelassen. Und irgendwann, nachdem sie nach San Francisco gezogen war, hatte Tess dann aufgegeben und den Kontakt zu Kate abgebrochen.
Damals hatte sie extrem unter der Situation gelitten. Sie war kein Mensch, der schnell Freundschaften schloss, und noch weniger gab sie Freunde schnell auf. Wenn sie zumindest gewusst hätte, warum Kate sich so verändert hatte, dann hätten sie ihre Freundschaft vielleicht noch retten können. Aber nicht einmal das hatte sie ihr anvertraut.
Als sie sich jetzt Kate gegenüber auf ein gemütliches Zweiersofa setzte, war ihr ziemlich mulmig zumute.
»Also, was willst du von mir?«, fragte Kate ohne Umschweife.
»Du weißt ja sicherlich, dass meine Tante bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist«, begann Tess. Kate nickte, äußerte aber kein Wort des Bedauerns. Tess schluckte enttäuscht. Sie hatte sich in den letzten Tagen viel geheucheltes Mitgefühl anhören müssen, aber wenigstens bei ihrer früheren Freundin hätte sie ehrliche Anteilnahme erwartet. Kate war so oft bei ihnen gewesen, dass sie Ellen fast als eine Art Ziehmutter angesehen hatte. Tess wusste, dass sie ihre Tante sehr gemocht hatte. Umso weniger verstand sie Kates gefühlskalte Reaktion.
Trotzdem fuhr Tess mit gefasster Stimme fort: »Als ich die Unterlagen von Ellen durchgegangen bin, um alles zu regeln, habe ich Notizen von ihr gefunden. Du weißt ja sicherlich, dass sie immer noch Nachforschungen zu Joannas Tod angestellt hat, oder?
»Das dürfte wohl kaum jemandem in Shadow Lake entgangen sein«, erwiderte Kate spöttisch.
»Richtig.« Mit großer Anstrengung gelang Tess ein kleines Lächeln. »Naja, wie gesagt habe ich Notizen von Ellen gefunden. Zuerst habe ich sie auch gar nicht weiter ernst genommen. Es waren zum Teil ziemlich wilde Theorien darüber, was sich alles abgespielt haben könnte. Aber dann bin ich auf eine Liste gestoßen, die mich doch zum Nachdenken gebracht hat.«
Tess machte eine Pause, aber da Kate keine Anstalten machte, etwas zu sagen, sprach sie
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