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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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gehörte ich zu diesen Söhnen. Es waren nicht mehr die gleichen Männer wie damals, an die ich mich erst ganz allmählich wieder erinnerte.
    «Du wirst dich ’ne Weile ziemlich schwerfällig fühlen», sagte einer über das Schleifen der Bootsflanke am Landungssteg und über die heftigen Geräuschexplosionen in meinem Rücken und Schädel hinweg. Er zog die Seetangdecke von mir herunter, und ich wartete darauf, abzuheben und hoch in die Luft zu fliegen. Aber nichts passierte. Hilflos lag ich da.
    Sie legten zwei Männern meine Arme um die Schultern und versuchten mir beizubringen, wie ich auf meinen neuen langen Beinen über das Deck gehen sollte, das mit Kisten, Bolzen und Spulen vollgestopft war; als es mir einigermaßen gelang, brachten sie mich eine klapprig wirkende Laufplanke hinunter, die mich nur knapp davon abhielt, ins dreckige Wasser zu fallen, in eine unbekannte, gemiedene Ecke meines Zuhauses unter Wasser. Halb schleiften sie mich, halb trugen sie mich an Land, das nicht nachgab und sich nicht bewegte; der Steg stand felsenfest, während das Wasser kämpferisch unten dagegenklatschte. Meine Füße schleiften über den Boden, und meine Beine versuchten, sie hinterherzuziehen – wie sollte ich mich bloß auf diesen zwei Stelzen halten können? Die Männer hatten mir ein Hemd und eine Hose angezogen, doch die fremdartigen Knie schlackerten und knickten unter meiner verschwommenen Sicht, meinem schweren Schädel ein. Ich wusste, dass sie zu mir gehörten, konnte mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich sie jemals unter Kontrolle bringen sollte.
    Jemand holte meinen Vater, und er kam die Straße herunter auf mich zu, doch ich konnte ihn nicht sehen, hörte nur stampfende Stiefel und ein paar Männer, die sagten: «Siehst du, Dominic? Hier ist er!» Dann fragte eine Stimme, die aus weit zurückliegenden Jahren, direkt aus meinen Knochen zu kommen schien: «Ist er das wirklich? Ist das mein Daniel? Seid ihr sicher?»
    Vor mir tat sich plötzlich eine Lücke auf. Mühsam hob ich den Kopf. Ich sah ein Paar verschwommene Stiefel und seine vertraute Gürtelschnalle, dann kam schlagartig der Rest von ihm ins Bild, scharf umrissen und wundersam, die großen Hände nach mir ausgestreckt, dazwischen sein zu neuem Leben erwachendes Gesicht.
    «Daniel», sagte er. «Dad», brachte ich heraus; sogar die Wörter fühlten sich hier schwer an, trugen das Gewicht all der Jahre und meiner neuen Stimme. Mein Kopf sackte unter dem Gewicht wieder nach unten, und ich sah nur noch grün-schwarz-blaue Pflastersteine, umringt von einem Halbkreis aus Stiefelspitzen und den Beinen der staunenden Männer.
    «Komm, ich nehm ihn dir ab», sagte mein Dad zu dem Mann rechts neben mir, und sie hakten mich aus und wieder ein. Ich tat mich mit dem Laufen noch schwerer als zuvor, lehnte mich an meinen Dad, mein Kopf ruhte schwer auf seiner Schulter.
    «Du kommst schon wieder auf die Beine, mein Junge», sagte er. «Wirst wieder putzmunter.» Er stützte mich und half mir beim Gehen. Auf seinem Hemd erschien ein Fleck in noch dunklerem Blau; ich hatte gar nicht bemerkt, dass es regnete oder dass er weinte. Ich versuchte zu sprechen, ihm zu sagen, dass ich mich an ihn erinnerte, dass ich überrascht war, dass es mir leidtat und dass ich irgendwie in diesen seltsamen, langen, falschgewachsenen Körper hineingeraten war. Aber alles, was ich im Moment zustande brachte, waren robbenartige Quietschlaute, die gar nichts aussagten, aber im Moment alles waren, womit ich dem Mann neben mir überhaupt etwas sagen konnte.
    «Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als der erste Junge wieder zu uns zurückkam», erzählt mein Vater vor dem Kamin. «Das Wetter, die Jahreszeit, alles war wie nagelneu, strahlte und blühte. Auf einmal war die Luft voller Farbe, und auf den Hügeln wuchsen Blumen. Ich zog die Vorhänge auf, und da marschierte er bergauf durch das Dorf, der Goldjunge, hochgewachsen und geschmeidig wie ein richtiger Mann – so wie du, Daniel, nur dass ich dich damals natürlich noch nicht gesehen hatte. Es war nicht sicher, ob ich dich überhaupt jemals wiedersehen würde, das musste ich mir immer wieder sagen. Ich weiß noch, wie er den Kopf hob – nicht um mich oder jemand anderen anzusehen, sondern um sich das Dorf anzugucken, die Mauern und vielleicht die Hügel und den Himmel darüber –, und als ich ihn ansah, sein Gesicht, in dem alle unsere Jungen, unsere Frauen und wir selbst vereint waren, hat’s mich fast

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