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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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Seeherz auf dem Teller liegen – außen haarig und mit orangefarbener, gummiartiger Masse gefüllt, ein orangefarbener Breitropfen am Rand. Dads Löffel schwebte in der Luft.
    «Da ist noch eins», sagte er und deutete mit dem Daumen auf den Topf, der auf dem Herd stand. Als wäre es ein ganz gewöhnliches Abendessen.
    Ich tat uns beiden den Gefallen und spielte mit. Ich durchquerte die Küche und hob den Topfdeckel ab.
    «Aber wolltest du nicht beide essen?»
    «Eigentlich schon», sagte er und räusperte sich. «Aber ich merke gerade, dass eins davon… genug ist.»
    Ich zog das Seeherz an einer festgewachsenen Seegrassträhne heraus, legte es in eine Schüssel, nahm mir einen Löffel und setzte mich an den Tisch. Ich griff mir Dads orangeverschmiertes Messer und schnitt das Herz mit meinen großen Händen geschickt oben auf. Im Geiste formulierte ich eine Bemerkung, die ich aber nicht aussprach:
Als ich das letzte Mal so eins gegessen hab, musste Mum die harte Schale noch für mich aufschneiden.
    Mit dem Dampf stieg der Geruch auf: Körper, nasse Haare, gekochte Schalentiere, säuerliches Meerwasser, kuschelige Winterabende, ihre klare blasse Haut mit einem Stich ins Grüne, ihr Haar ein erstarrter Strom schwarzen Wassers.
    Ich löffelte etwas Brei heraus und schmeckte meine ganze Kindheit – ihre Wärme und Unbekümmertheit. Die Mums lachten miteinander; auch Mum und Dad lachten, blickten einander an, hielten sich im Arm. Ich dachte mir alle möglichen Dinge aus, um sie voneinander abzulenken: Ich führte etwas vor, machte einen Handstand an der Wand, damit sie wieder zu mir hinsahen, mich einbezogen. Wenn Dad da war, hatte ich immer nur das eine Ziel vor Augen – dass Mum ihren Blick und ihre Aufmerksamkeit wieder mir zuwandte.
    Nun, das war mir wohl gelungen. Der Brei kühlte auf meiner Zunge ab; er glitt mir die Kehle hinunter, durchweichte meinen Kopf mit salziger Süße. Tränen stiegen mir in die Augen.
    Ich sah auf und begegnete Dads aufmerksamem Blick; er hielt einen Löffel voll Brei in der Hand. «Wie geht’s meiner Neme denn?», fragte er. «Wie ging’s ihr, als du sie das letzte Mal gesehen hast?» Er aß den Brei, ließ den Blick aber auf mir ruhen, ersparte mir die Antwort nicht.
    «Ich weiß es nicht», wurde mir klar. «Sie war da. Sie war gesund. Dort unten ist alles so anders; es ist nicht wie hier.» Ich war beschämt, etwas so Offensichtliches zu sagen, aber Dad lachte nicht über mich und wirkte auch nicht ungeduldig. Er bewegte den Brei in seinem Mund hin und her, als könnte er mehr über diesen Ort erfahren, über die mehr als fünf Jahre, die ihm mit uns verloren gegangen waren, indem er genau hinschmeckte und mich genau beobachtete.
    «Sie hieß dort nicht einmal Neme», sagte ich und zuckte hilflos die Schultern.
    «Wie hieß sie dann? Was war ihr richtiger Name?»
    Ich versuchte, ihn auszusprechen, aber er glitt wie Wasser durch meinen Mund, wie ein Windhauch, und es gehörten hohe Töne dazu, die ich mit meiner Menschenstimme nicht erreichen konnte, und heraus kam ein Krächzen, das in einem Menschenzimmer grob klang, nur nach Tier klang, und in dem nicht einmal die Hälfte seiner wahren Bedeutung mitschwang. Die Robbensprache und der Robbengesang verschwanden allmählich aus meinem Gedächtnis. Wenn ich noch einmal untertauchen, den Kopf unter Wasser halten würde – vielleicht käme die Erinnerung dann zurück. Aber hier oben entglitt sie mir immer mehr. Ich machte einen neuen Versuch. «Nein», sagte ich, «es klingt mehr so …»
    Er hörte meinen Versuchen zu, ohne zu lachen.
    «Es klingt nach nichts», sagte ich. «Es klingt überhaupt nicht wie – eigentlich ist es etwas schriller am Ende und etwas lang gezogener …»
    Meinen nächsten Versuch ahmte er nach; er gab sich wirklich Mühe, aber trotzdem … Ich schüttelte den Kopf.
    «Nicht so ungefähr?», fragte er traurig.
    «Oh doch, schon so ungefähr.» Ich kratzte den Boden der Seeherzschale aus. «Aber nur ein kleines bisschen.»
    Er wiederholte die Laute, versuchte, sich ihnen mit seiner Menschenstimme anzunähern. «Was bedeutet ihr Name denn? Was sagt er über sie aus, oder wie unterscheidet er sie von all den anderen … all den anderen dort unten?»
    Wieder dachte ich: Wäre ich doch nur dort unten, könnte ich doch nur einen Moment lang schwimmen. Mit dem Breigeschmack auf der Zunge schloss ich die Augen, hielt mir mit den Handballen die Augen zu und versuchte, es mir vorzustellen. Das Zucken eines

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