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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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Stuhl fuhr scharrend zurück. Er kam zu mir herüber, beugte sich über meinen Kopf, strich mir übers Haar. Er quälte mich nicht mit weiteren Worten, fuhr mir nur eine Weile kraulend über den Kopf – wie bei einer Katze –, dann drückte er einen Kuss darauf und trug unsere Teller zur Spüle.
     
    Wenn der Wind stark genug aus nordöstlicher Richtung blies, liefen Toddy und ich hoch zum Windaway Peak. Dort oben gab es eine kleine Erhebung, zu der alle Winde von Gambrel Wood bis Oaten Share wie durch einen Trichter hinaufbliesen, und wir standen darauf und krallten uns mit den Zehen an der Felskante fest, als wären es Adlerklauen, breiteten die Arme aus und ließen uns vom Wind tragen. Er drückte und schob sich um uns herum, schubste uns nach hinten auf den Pfad zurück, oder er setzte aus, sodass wir lachend vornüberpurzelten – in eine seichte Grube auf der Südseite. Toddy war eine genauso lange Bohnenstange wie ich; es brauchte keinen allzu starken Wind, um uns aufrecht zu halten. Toddy war nicht froh darüber, dass man ihn wieder an Land geholt hatte, weil er nie besonders gut mit seinem Dad klargekommen war, aber er hatte eins von Wholemans mit Gerümpel vollgestopften Zimmern ausräumen und sich darin einquartieren dürfen und verrichtete als Gegenleistung meine frühere Arbeit.
    «Man kann’s sich fast vorstellen, oder?», rief Toddy, wenn es uns über längere Zeit gelang, im Luftstrom das Gleichgewicht zu halten.
    Und das konnte man tatsächlich beinahe, auch wenn der Wind viel schwächer und unbeständiger war als die Gezeiten und der Seegang und unsere Köper so anders geformt waren und sich von innen so anders in dem Strom anfühlten, so grob und hochgewachsen. Aber es reichte immerhin, um uns vorzustellen, dass wir Längs- und Querschneisen in die Wassermassen schnitten, dass das Flattern des Mantels die Berührung einer Schwester war, dass andere, große und kleine Artgenossen singend in Formationen um uns herumschwammen. Wir konnten die Aufregung beinahe spüren, das Ausbrechen der Familie an den Rändern, das Gewühl in der Mitte, das Drängeln, die feinen Kurskorrekturen, das Abbremsen und Vorwärtsschnellen.
    Schweigend gingen wir zurück, den Kopf von allen Sorgen freigepustet.
    «Wenn erst Sommer ist», sagte Toddy, «und man schwimmen kann, ohne sich die Eier abzufrieren, gehen wir runter zum Six Mile Beach.»
    «Ja, dann sind wir näher dran.»
    «Das fühlt sich garantiert noch ähnlicher an.»
    Ein paar schweigsame Schritte. Auf dem Spine fühlten wir uns wie auf dem Dach der Welt, überall um uns herum nur Himmel.
    «Aber nie genauso, Toddy.»
    «Nein, das nicht. Ist mir schon klar. Aber vielleicht … ist es das Nächstbeste. Vielleicht ist ganz nah dran nah genug, was meinst du?»

Lory Severner
    A lso packte ich meine Sachen und machte mich auf den Weg nach Rollrock Island. Jetzt gab es schließlich niemanden mehr, der mir reinreden konnte.
    Keinen Fuß würde ich auf diese Insel setzen
, sagte meine verstorbene Mum in meinem Kopf,
nach alldem, was sie den Frauen dort angetan haben. Was sie deiner eigenen Grandma angetan haben.
    Aber der Mann hat gesagt, das ist längst vorbei
.
Schon seit Jahren.
    So viele Jahre ist es nun auch wieder nicht her. Und das haben sie beim letzten Mal bestimmt auch gesagt.
    Aber ich hörte nicht auf Mum.
    Eine Insel voller Männer!
, hatte meine Freundin Sally gesagt.
Klingt großartig – und beängstigend! Ich würde dich gern noch zum Bus bringen, aber ich muss in der Bäckerei arbeiten.
    Ist nicht schlimm – ich bring mich selbst zum Bus
.
    Du bist so mutig, Lory. Ich würde mich so was niemals trauen.
    Ich war weder mutig, noch hatte ich Angst. Als ich Mrs. Mickles’ Pension verließ, war ich nicht einmal aufgeregt. Der Schlüssel zu dem Haus in Potshead war so schwarz und rau, als hätte er jahrelang auf dem Meeresgrund gelegen, und kratzte meine Hand in der Manteltasche. Mums kleiner Koffer, den ich immer geliebt und gewollt hatte, gehörte nun mir – ich wünschte, es wäre wieder ihrer –, und als ich jetzt den Bus bestieg, war ihr Koffer bei mir, angefüllt mit den Kleidern, die ich zu Mrs. Mickles mitgenommen hatte. Ich hob ihn auf die Ablage und nahm darunter Platz; wie eine kleine Wolke schwebte er über mir und verdeckte die Sonne.
    Knocknee glitt davon. Ich hatte den Bus schon vorher abfahren sehen, voll mit Schulmädchen auf dem Weg zu einem Picknick oder umstellt von fröhlichen Gratulanten, die ein Ehepaar in die

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