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Seeherzen (German Edition)

Seeherzen (German Edition)

Titel: Seeherzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margo Lanagan
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warm gehalten. Ich wollte mein Kind nicht so weit weg von mir tragen – wie einen Aufnäher oder eine Anstecknadel. Ich wollte meinen kleinen Jungen verstecken, ihn davor schützen, dass ihm jemand Leid zufügte. Noch wusste niemand von ihm, und ich wünschte, es könnte für immer so bleiben. Musste ich Potshead auf ihn loslassen, so wie man es auf mich losgelassen hatte? Musste Mum ihre Urteile über seinem winzigen Kopf auskippen, meine Schwestern ihn angaffen, in ihren erfahrenen Armen wiegen und lauthals verkünden, dass er später hoffentlich hübscher werden würde als ich? Konnte er nicht ganz er selbst werden, von ihrer Verachtung unbehelligt und unversehrt? Wie konnte ich dabei zusehen, wie sie ihn drangsalieren und auf ihn eindreschen würden, wie er unter ihren Worten zusammensacken und sich zusätzliches Fleisch anfuttern würde, so wie ich es getan hatte, in dem Glauben, sich damit zu schützen, während er sich stattdessen nur noch mehr zur Zielscheibe machte? Wie konnte ich es anstellen, dass er zu seinem eigenen Wesen finden und stehen würde – egal ob klein, schwach und schmächtig oder wild, kämpferisch und ruppig? Schon jetzt spürte ich seine entschlossene Aktivität unter dem Stoff, spürte, wie sich seine Füßchen gegen meinen Arm drückten. Sein Gesicht war noch unwissend, und doch entdeckte er bereits, wie er zu atmen hatte, zu gähnen – zu niesen! – und in den Schlaf zu fallen, die winzige Wärme seiner Hand an die Wange geschmiegt.
    Dads Geräusche im Nebenzimmer verrieten mir, dass er mich brauchte. Ich erwachte aus dem Baby-Zauber, erhob mich und legte mein Kind in die Mulde des Bettes. Ich wickelte mir ein paar Stoffbinden um, steckte sie fest und verbarg meine beschmutzten Beine unter meinen Röcken. Dann ging ich zu Dad; er musste mal, und mein neuer Körper verrichtete gemächlich die notwendigen Arbeitsschritte. Ich war froh, mich um ihn kümmern zu können, froh über die lange Zeit, die ich ihn bereits gepflegt hatte; niemand war besser als ich darauf vorbereitet, für das hilflose rosige, winzig kleine Wesen nebenan zu sorgen, das vollständig auf mich angewiesen war.
     
    Wäre es nicht Winter gewesen und ich nicht so hässlich und ohne Freunde, hätte ich das Baby nicht versteckt halten können. Doch niemand kam zu Besuch, außer Mum das eine oder andere Mal, um noch mehr Nähzeug zu holen und schmutzige Wäsche bei mir abzuladen, die sie aufgrund der Menge oben in Grassys Haus nicht bewältigen konnte. Sie interessierte nur, ob Dad sauber und ruhig war, ob er etwas aß und ob im Haus Ordnung herrschte, alles andere war meine Angelegenheit. Mein Sohn verhielt sich mucksmäuschenstill, während Mum im Haus war, und wenn ihm doch einmal ein Quieken entfuhr, miaute daraufhin direkt eine Katze vor dem Fenster, sodass mein Geheimnis gewahrt blieb.
    Doch mein Sohn wuchs nicht. Mir war ein Rätsel, wo meine ganze Milch blieb. Ich stillte und stillte ihn, und er saugte aus mir heraus, was er nur konnte, doch die Anstrengung zu atmen, seine Windeln vollzumachen, in die Luft, nach seinem Gesicht und meinem Finger zu greifen, schien alles aufzubrauchen, was er mir abgesaugt hatte, sodass nichts für sein Wachstum übrig blieb. Er schlief gut, weinte wenig, lächelte, wenn er mich sah, und machte freudige Bewegungen, wenn ich mich ihm näherte. Er lernte, den Kopf auf seinem spindeldürren Hals anzuheben, mir ins Gesicht zu blicken und zu lachen, wenn ich mich über seine Fortschritte freute. Ich badete ihn, wickelte ihn ein, trug ihn mit mir herum und sang ihm etwas vor; ich feuerte ihn bei jeder noch so kleinen Gebärde, jedem noch so zaghaften Geräusch an. Doch er blieb klein. Zunächst schrumpfte er sogar ein wenig, dann wurde er wieder so klein, wie er bei seiner Geburt gewesen war, doch weiter wuchs er einfach nicht. Wenn ich ihn schlafen legte, hatte er einen kugelrunden Milchbauch, doch wenn ich ihn später wieder hochnahm, war er wieder genauso schmal wie zuvor.
    Eines Tages stapfte ich selbst den Hügel hinauf und ließ meinen Jungen randvoll mit Milch schlafend im Haus zurück – und Dad, das Riesenbaby, randvoll mit Abendessen im Zimmer nebenan. Ich besuchte beide Schwestern. Keine freute sich, mich zu sehen, und als ich Bees Haus betrat, zeterte Mum:
    «Du bist ja nur noch Haut und Knochen, Mädchen! Hast du vergessen, wie man kocht? Ich hoffe, dein Dad hat mehr auf den Rippen, sonst kannst du dich auf was gefasst machen!»
    Ich sah beide Babys: Bees Mädchen

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