Seeherzen (German Edition)
und Grassys Jungen, zwei große blasse Brocken, die vor Zorn oder Kummer rot anliefen. Sie hatten solche Kraft in den Armen, dass sie einem das Ohr, die Lippe oder was auch immer sie in die Finger bekamen, abreißen konnten. Doch besonders ihr
Gewicht
beeindruckte mich; nachdem ich sie nur ein paar Minuten lang gehalten hatte, taten mir schon die Arme weh.
Ich stolperte und schlitterte den Hügel hinab, mir dröhnten die Ohren von dem Lärm in den beiden Häusern, dem Um-die-Wette-Kreischen der älteren Kinder, den Boshaftigkeiten meiner Mum und Schwestern und dem Geschrei der beiden Riesenbabys.
Ich ging an meinem schlafenden Dad vorbei direkt in mein Zimmer. Dort lag mein Kleiner – federleicht und sanftmütig, mit seinem geisterhaften schwarzen Haarkranz über der blassen Stirn und fliederfarbenen Schatten unter den Augen, als wären sie mit einem feinen Pinselstrich gezogen worden. Er war nichts im Vergleich zu den Babys, die ich gerade gesehen und im Arm gehalten hatte. Obwohl er wach war und obwohl er mich anlachte, war er nicht ansatzweise so lebendig wie sie und nicht ansatzweise so groß.
«Mein Feenkind!» Ich kauerte mich neben das Bett und sah ihm beim Einschlafen zu. Alles an ihm war zart und beinahe durchsichtig, wohingegen Gladys und – wie hieß er noch mal? – Horace so solide wirkten wie aus Lehm gemacht und aussahen, als hätte man Sahne in Wurstpellen gepresst. Mein Sohn war zierlich, viel, viel zierlicher als die beiden. Ich stand auf, hob ihn hoch und setzte mich mit ihm aufs Bett, beobachtete seine entspannten, liebenswerten Gesichtszüge, die Fältchen seiner fliederfarbenen Hände. Er war zierlich und fremdartig, und er gehörte nicht hierher. Ich hielt ihn so nah wie möglich an mich gedrückt, ohne ihn einzuengen, ihn aufzuwecken, ließ ihn schlafen und litt still vor mich hin. Nie zuvor hatte ich so etwas gefühlt. Ich hätte alles für ihn getan, ich war zu allem bereit. Ich würde, ohne zu zögern, alles tun, was man von mir verlangte, wenn ich ihm damit zu mehr Glück oder Gesundheit verhelfen konnte. Das schwor ich mir, während ich ihn in den Armen wiegte und in den weißen Winterhimmel vor dem Fenster blickte.
Dann wurde es Frühling, und das Tauwetter setzte ein. Mum war immer noch weg, weiter bergauf. Mein Söhnchen – ich nannte ihn Kleiner Prinz und manchmal Ean, was eigentlich kein richtiger Name war, eher ein paar ineinander verwischte Laute – wurde älter, aber nicht größer, und nun schien er Schmerzen zu haben; gequält wand er sich in seinen Tüchern umher. Wenn er weinte, klang es nicht so leidenschaftlich wie bei Horace und anderen Babys seines Alters, sondern schwächlich, als ob er jeden Jammerlaut mühsam hervorpresste und sich gleichzeitig für das schwache Geräusch entschuldigte.
In einigen Nächten war ich sicher, dass die Nachbarn ihn weinen hören mussten, obwohl seine Stimme so leise war. Dann nahm ich ihn mit nach draußen, und wir durchquerten die kalte Landschaft: die triefende Nässe und die Schneeflecken, die schwarze Erde, auf die das Mondlicht weiße Sprenkel warf, und das Meer, das sich im Schlaf wälzte. Jedes Mal, wenn wir Crescent Cove erreichten, wurde er ruhiger, und als ich ihn eines Nachts, während er friedlich in meinen Armen schlummerte, über die Felsen trug, auf denen wir ihn in jener Sommernacht gezeugt hatten, fragte ich mich, ob es wohl etwas gab, das ich aus der Crescent Cove mit nach Hause nehmen und neben ihn legen konnte, um ihn in den Nächten zu beruhigen, in denen wir nicht hierherkommen konnten.
Mein Blick fiel auf die Algen, die aus dem frisch angespülten Strandgut heraushingen. Wie glänzende Zungen leckten die Braunalgen und der Riementang am Felsen. Vielleicht war der riemenartige Tang geeignet – oder doch eher der blasige Knotentang, der weiter oben lag? Es gab noch eine andere Algenart; sie war in dem diffusen Licht nicht so gut zu erkennen, wirkte aber feiner als die anderen, glich felligen Fäden. Ich legte das schlafende Bündel in eine Felsmulde und entwirrte einige Seegrasklumpen und -knäuel, zog ein paar lange Fäden daraus hervor. Dann formte ich mehrere Schlingen, reihte sie hintereinander auf, und als sie eine gewisse Länge erreicht hatten, begann ich wieder bei der ersten Luftmasche und zog nach und nach immer mehr Seegras durch die Reihen, bis der Rand einer kleinen Decke entstanden war.
Es dauerte nicht lang, und meine Finger wurden müde, weil sie nicht das geeignete Werkzeug für
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