Seeherzen (German Edition)
Nacht.
Mum war schon ein ganzes Stück die Hauptstraße hinaufgelaufen. Sie hörte mich kommen, drehte sich um und machte eine entnervte Geste, eilte weiter.
Ich holte sie ein. Mit zusammengepressten Lippen starrte sie stur geradeaus, als wäre ich gar nicht da. Schnaufend lief ich neben ihr her, streifte mir den Mantel über, die eisige Kälte biss durch meine Bluse, den Wollpullover, Mantel und die Strümpfe hindurch. Ich hielt mühsam mit ihr Schritt, während sie entschlossen voranstapfte, als wäre sie ganz allein, bis sie oben vor Nickels Haus sagte: «Dir wird garantiert nicht gefallen, wo wir hingehen.»
«Ist mir egal.»
«Dir wird’s nicht mehr egal sein, wenn du es siehst.» Schwungvoll bog sie rechts in die Marksman Road ein.
Ich folgte ihr, hatte jetzt schon Angst. «Ich mach auch kein Theater», sagte ich. «Ich stör dich nicht.»
«Ich würd’s nicht mal mitkriegen, wenn du’s versuchst, Mädchen. Ich bin stinkwütend.»
Das letzte Haus erhob sich vor uns, das größte und eleganteste der ganzen Stadt – und das furchterregendste. Drum herum erstreckte sich ein Gartengelände mit Teichen, Heckenreihen und Irrgärten aus Mondlicht. Im Haus war es fast vollständig dunkel, nur in einigen der unteren Fenster auf der Rückseite leuchtete Licht und zeugte von Leben.
Als Mum das Tor erreichte, unterdrückte ich ein Wimmern. Jetzt musste ich mich entscheiden; ich konnte mich umdrehen, oder ich ging mit ihr hinein. Doch als sie das Tor durchquert hatte und auf dem Weg angelangt war, sah sie nicht einmal nach, ob ich ihr folgte, und das gab mir den Anstoß – dass sie gar nichts anderes von mir
erwartete
, als ein Feigling zu sein –, ihr zu folgen. Ich schloss das Tor hinter uns, als besuchten wir gerade einen anständigen Menschen. Ich holte Mum ein. Einige wächserne Blumen am Wegesrand erzitterten in dem Luftwirbel, den Mum im Vorbeifegen verursachte; sie sahen aus, als hätten sie einen durchdringenden fremdartigen Geruch, doch es war zu kalt, um ihn zu verströmen. Dann stiegen wir die breiten Stufen hinauf, das ausladende Geländer empfing uns wie die ausgebreiteten Arme einer Tante, der ich keinen Begrüßungskuss geben wollte. Mum hob den Türklopfer an und hieb damit fünfmal energisch gegen die Tür.
Ich musste mich zwingen, meine Hand nicht in ihre zu schieben – ich war immerhin schon
dreizehn
. Und ich hatte versprochen, sie nicht zu stören. Dafür drückte ich mich so weit wie möglich an die Seite des Geländers. Vielleicht wollte Mum plötzlich fliehen, und dann durfte ich nicht direkt hinter ihr stehen und ihr den Weg versperren. Und falls die Hexe einen Satz auf mich zumachte, könnte ich einfach in das fein säuberlich gestutzte Gebüsch neben mir springen. Ich konnte nicht glauben, dass wir vor ihrer Tür standen. Ich konnte mein eigenes Herzklopfen nicht von Misskaellas Schritten unterscheiden, die durch den Flur auf uns zukamen.
Die Lampe in ihrer Hand erleuchtete das Glas der Tür; ihre schemenhafte Gestalt hätte einer ganz harmlosen Person gehören können. Der Schlüssel kreischte im Schloss, doch es fühlte sich an, als drehte er sich in meinem Magen um; gleich würde ich dieser grauenhaften, hässlichen, zornigen Frau gegenüberstehen. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen, ihr nicht einmal in die Augen geblickt – ich hatte sie immer nur beobachtet, wie sie vor einem weiteren vollbeladenen Karren mit Waren und Schnickschnack aus Cordlin die Straße entlangstolziert war. Genau wie alle anderen hatte ich dazwischen geschwankt, vor lauter Angst einfach wegzulaufen oder fasziniert zuzusehen.
Der Riegel wurde hochgehoben, und Misskaella öffnete die Tür, ließ den Schein ihrer Laterne auf uns fallen. Nüchtern betrachtet war sie nur ein Mensch. Vielleicht konnte Mum es mit ihr aufnehmen wie mit jedem anderen Menschen auch, wie mit Fisher unten im Laden, dem feigen Pfarrer oder Hatty Threading, die auf der Straße immer laut herumkrakeelte.
Süßlich-scharfer Rauch quoll dick aus der langstieligen Pfeife, die die Hexe in der Hand hielt, und entströmte ihren Röcken und Haaren; sie musste in einer einzigen Rauchwolke gesessen haben. Sie war dunkel und elegant gekleidet, wie man es von ihr gewohnt war; ihre Röcke schwangen ein Stück über dem Boden und gaben den Blick auf ein glänzendes Paar schwarzer Stiefel frei, die bis oben hin mit Knöpfen besetzt waren, als wären sie an ihren Schienbeinen festgenagelt. Sie war stämmig, doch der Schnitt ihres
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