Seejungfrauen kuesst man nicht
zugezogen, und von meinem Bett aus kann ich den Mond sehen, einen perfekten Halbkreis aus leuchtendem Weiß, und jenseits davon Nadelstiche aus Licht von Hunderten von Sternen, die vielleicht schon gar nicht mehr existieren. Und einen sehr kurzen Augenblick erkenne ich mit plötzlicher Klarheit, und mit jeder Faser meines Wesens , die ungeheure Weite des Universums und meine eigene unendlich kurze Zeitspanne auf dieser winzigen, sich drehenden Kugel aus Schmutz und Feuer, und ich verstehe zutiefst, was es bedeutet, für den Rest der Ewigkeit nicht zu existieren. Die Vision, wenn es das ist, halt nur ein paar Augenblicke an, und dann bin ich wieder ich, im Bett liegend, schweißnass, und mache mir auf die normale, abstrakte Art Sorgen um den Tod, die man ertragen kann und die uns alle vorm Wahnsinn bewahrt.
Ich sehe die Radleys nicht mehr wieder. Lexi ist weg, Rad geht zurück nach Durham, nehme ich an, und Francés irgendwohin, wo ihr ein Studienplatz angeboten worden ist, und als ich das nächste Mal am Haus vorbeikomme, hängt dort ein Schild »Zu verkaufen«.
Ich fange am Royal College an und ziehe in ein Studentenwohnheim in Kensington. Von meinem Fenster aus sehe ich das Natural History Museum und die Dächer von roten Bussen. Die Zimmer sind schachteiförmig und mit braunen Nylonteppichen ausgelegt, die sich so aufladen, dass ich jedes Mal, wenn ich die Türklinke anfasse, eine gewischt kriege. Das Bad ist eine fensterlose Zelle mit schwitzenden weißen Kacheln und schwarzen Schimmelblüten an Decke und Duschvorhang.
Meine Zellengenossin ist eine junge Frau namens Eva, die an der School of Hygiene and Tropical Medicine studiert. Sie hat einen Freund in Saint Albans und ist fast nie da. Sie hat eine Kaffeemaschine, die sie gewöhnlich abzustellen vergisst und die in der Ecke zischt und keucht und beißende Dämpfe ausstößt. Auf demselben Flur wohnen ein walisischer Lichenologe und ein Geologe, der so laut Heavy Metal hört, dass die Poster von der Wand fallen. Er gibt laute Partys, zu denen ich eingeladen werde, aber nie hingehe. Die Einladungen bleiben bald aus. Das sollen die besten Jahre meines Lebens sein.
Nach etwa einem Monat schickt mir Mutter einen Brief von Frances nach. Sie studiert Theater an einer TH im Norden und führt ein wildes Studentenleben. Sie und Nicky haben sich getrennt, und Frances hat einen neuen Freund. Ich ärgere mich über den triumphierenden Ton ihres Briefes, der weder eine Andeutung über die vergangenen Ereignisse noch eine Entschuldigung enthält. Ich gebe mir Mühe, eine Antwort zu verfassen, die nicht nach Vorwürfen und Selbstmitleid stinkt. Zu gegebener Zeit kommt ein viel kürzerer Brief, und dann nichts mehr.
Da ich nichts Besseres zu tun habe, arbeite ich hart, und meine Dozenten sind zufrieden mit mir. Sie loben meine Technik, Mrs. Suzansky, meine neue Lehrerin, sagt auf ihre geschwollene Art, dass ich das Cello mit einer Stimme voller Tränen zum Singen bringe.
Und was wurde aus meiner hoch geschätzten Jungfräulichkeit? Ich verlor sie an einen Kommilitonen namens Dave Watkins in seinem möblierten Zimmer nach einer Party am 28. Januar 1986. Ich erinnere mich vor allem deswegen daran, weil am selben Tag die Challenger explodierte und sowieso schon Trauerstimmung in der Luft lag.
Zufällig war ich im August 1996 mit dem Orchester in Rom, und an dem Tag, den Mr. Radley vor all den Jahren für unser Treffen festgelegt hatte, fühlte ich mich in einer neugierigen und nostalgischen Stimmung zur Spanischen Treppe und zu Keats‘ letzter Unterkunft hingezogen. Mr. Radley tauchte natürlich nicht auf, aber ich sah Keats‘ Schreibpult, seine Totenmaske und das McDonald‘s-Restaurant ein paar Meter von seiner Tür entfernt; da ich wusste, wie sehr das Mr. Radley erzürnt hätte, aß ich dort zu Mittag und trank mit einem gelben Milchshake auf sein Wohl.
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Eines habe ich gelernt: Wir lernen nie dazu.
Im Laufe des Abends mischte ich mich bemüht zwanglos unter die Leute, aber meine Umlaufbahn kreuzte Rads nicht noch einmal, und er machte keine Anstalten zurückzukommen. Ab und zu entdeckte ich ihn in der Menschenmenge - er wurde herumgereicht wie ein Teller mit Sandwiches. All diese Mädchen mit ihren hochgebundenen Haaren und Kleidern mit Schnürsenkelriemchen konnten offensichtlich nicht genug von seinen Rohren bekommen. Ich kann es nicht, dachte ich. Ich werde nicht genug Mut zusammenkratzen können, um noch mal zu ihm zu gehen, obwohl ich tausend Fragen an ihn
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