Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
mich fest und will mich nicht weglassen. Ich will ihr nicht antworten.«
»Was fragt sie dich denn?«
»Über den Morgen, an dem Mama gestorben ist.«
Óðinn zögerte.
»Ob du da wach geworden bist?«
Rún blickte auf den Asphalt. Die Heißwasserleitungen hatten den Schnee geschmolzen, so dass die grauen Steinplatten zum Vorschein kamen, und Óðinn hoffte, dass Rún nicht den Asphalt vor sich sah, auf dem ihre Mutter gelandet war. Sie bejahte mit dünner Stimme.
Óðinn musste es darauf ankommen lassen. Er würde keine andere Gelegenheit mehr bekommen.
»Will sie wissen, ob du mich in der Wohnung gehört oder gesehen hast?«, fragte er.
Rún zuckte zusammen und schaute verwundert zu ihm hoch.
»Dich? Nein, sie redet immer nur über sich. Ob ich aufgewacht sei, als sie gekommen ist.«
Óðinn war sprachlos. Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Er war gar nicht bei Lára gewesen, aber Aldís war in die Sache verwickelt. Es war leicht, sich das vorzustellen, wenn man einmal darauf gestoßen worden war. Sie hatte die Wäsche gebracht und bei Lára vorbeigeschaut, vielleicht auf einen Kaffee. Doch dann musste sie mit Lára in Streit geraten sein, die Kontrolle verloren und ihre Tochter vom Fensterbrett geschubst haben, wo sie saß und rauchte. Absichtlich oder unabsichtlich.
Óðinn war wie betrunken. Er war so erleichtert, dass er sich wie neu geboren fühlte. Nicht als ein neuer Mensch, sondern als er selbst, so wie er gewesen war, bevor das alles angefangen hatte. Er hatte nichts Verwerfliches getan. Er konnte zwar nicht stolz auf seine Vergangenheit sein, musste sich aber, anders als Aldís, auch nicht übermäßig dafür schämen.
Ihm war nicht mehr kalt, und er wurde auf einmal ganz zuversichtlich. Warum war ihm das nicht früher klargeworden? All diese seltsamen Halluzinationen in der letzten Zeit mussten daher rühren, dass sein Unbewusstes ihn darauf hinweisen wollte, ihn darauf aufmerksam machen wollte, dass etwas nicht stimmte. Es hatte überhaupt nichts mit einer Verbindung zum Jenseits zu tun. Er musste nicht sterben! Erst jetzt fing sein Leben noch einmal richtig an.
Er würde nicht länger warten und ihr Leben wieder auf die richtige Spur bringen.
»Weißt du was, Rún? Der heutige Tag markiert einen neuen Anfang für uns beide. Morgen rede ich mit deiner Oma, und sie wird dich von jetzt an in Ruhe lassen. Diesmal machen wir alles richtig.«
Er blickte nach Osten, als erwarte er einen verfrühten Sonnenaufgang zu ihren Ehren, doch dort war nur der dunkle Abendhimmel, der sich auf die Nacht vorbereitete.
»Ein neues Leben, Rún! Vom heutigen Tag an.«
Skeptisch betrachtete sie das alberne Lächeln auf seinen Lippen und lächelte schließlich zurück. Óðinn suchte in seinen Jackentaschen nach dem Haustürschlüssel, zog aber stattdessen Róbertas Schlüssel heraus. Der Schlüssel zu der Garage, den er nicht zurückgegeben hatte. Ein Schauer durchfuhr ihn, für den er keine Erklärung hatte, und er steckte den Schlüssel wieder in seine Tasche. Er würde ihn morgen zurückbringen. Am ersten Tag ihres neuen Lebens.
31. Kapitel
März 1974
Ihre Zunge lag wie ein trockener Lappen in ihrem Mund, trotzdem kam sie unmöglich rüber ins Bad, um ihren Durst zu löschen. Sie lag zusammengerollt auf der bunten Überdecke, die sie jeden Morgen über ihr Bett breitete. Sie hatte keine Tränen mehr, sie hatte sich leer geweint. Ihr Leben war zerstört, und sie hatte keine Zukunft. Doch das hatte sie schon gewusst, bevor sie Einar alles erzählt hatte, was sie wusste, und ihn alles gefragt hatte, was sie nicht wusste. Sie hatte ihm anvertraut, dass sie seine Briefe gelesen hatte und Eyjalín begegnet war, die total verrückt auf sie gewirkt hatte. Dem hatte er nicht widersprochen, und ihre Befürchtungen bezüglich des möglichen Verhaltens des Mädchens wurden noch größer. Aber das war nicht das Schlimmste bei ihrem Gespräch.
Was war sie nur für eine Idiotin gewesen. Sie hatte nur eine Sache richtig gemacht: Einar nicht zu sagen, dass sie ein Kind erwartete. Als er ihr alles erzählt hatte, kam es nicht mehr in Frage, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Aldís war mit bleichem Gesicht aufgestanden und in ihr Zimmer gegangen, nachdem sie den toten Vogel im Schnee begraben hatte. Dann hatte sie sich den Tränen ergeben. Neben der Trauer über den armen Vogel hatte sie vor allem über ihre eigene Dummheit und ihre zerbrochenen Träume geweint – dass Einar und sie gemeinsam das Kind
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