Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
weinte, stellte sie fest, dass sie immerhin eine vernünftige Entscheidung getroffen hatte. Sie würde Einar niemals erzählen, dass er der Vater ihres Kindes war. Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben und würde schon eine Lösung für den Vaternamen finden, wenn es so weit wäre. Und sie würde sich nichts anmerken lassen, wenn sie sich zufällig auf der Straße begegneten, selbst wenn er ein Mädchen im Arm hätte und sie alleine wäre. Natürlich würde sie alleine sein, Männer wollten nicht anderer Leute Kinder großziehen, jedenfalls hatte ihre Mutter nie geheiratet, und der Einzige, der sie gewollt hatte, war noch nicht mal verliebt genug gewesen, um die Finger von ihrer Tochter zu lassen. Wahrscheinlich würde sie in einer Bäckerei enden wie ihre Mutter, und Höhepunkt der Woche würde sein, wenn von den französischen Waffeln etwas übrig bliebe und sie die Reste mit nach Hause nehmen dürfte.
Aldís sprang auf die Beine und wurde sofort von Kopfschmerzen und Schwindel gepackt. Es war an der Zeit, sich von diesem Elend aufzuraffen. Der Gedanke an kaltes Leitungswasser belebte sie, und obwohl ihr Kopf zu platzen schien, verschwand wenigstens der Schwindel. Sie hob ihre Jacke vom Fußboden auf und musterte das enge Kleidungsstück besorgt. Mit einem Babybauch würde sie niemals den Reißverschluss zukriegen. Musste sie jetzt ihr ganzes Geld für Schwangerschaftsklamotten ausgeben, die sie später nicht mehr gebrauchen konnte? Nein, dann lieber ein kalter Bauch.
Seltsamerweise zweifelte sie kein bisschen mehr daran, dass sie schwanger war. Am Morgen hatte sie noch zu hoffen gewagt, dass es eine andere Erklärung gäbe, doch jetzt kam ihr das wie alberner Kinderkram vor. Schon vor zwei Wochen hätte sie zwei und zwei zusammenzählen können, hatte aber einfach alles verdrängt, und hätte Hákon in der Küche nicht diese Bemerkung gemacht, hätte sie das Offensichtliche weiter ignoriert.
Es klopfte leise an ihrer Tür. Das Geräusch klang hohl, und ihr Herz schlug schneller, als sie fragte, wer da sei. Was sollte sie machen, wenn es Einar war? Ihr wurde schlecht, wenn sie daran dachte, was er am Ende seiner Geschichte gesagt hatte. Er wolle Liljas und Veigars Kind ausgraben und ihnen damit drohen, sie zu verraten, wenn er nicht gehen dürfe. Da hatte Aldís genug gehabt. Der Junge war doch nicht normal. Er war kalt und herzlos, sie hatte es bisher nur nicht wahrhaben wollen. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie aus dem Fenster klettern und sich fallen lassen sollte.
»Hákon.«
Aldís war so neugierig, dass sie die Tür einen Spalt weit öffnete, ohne darüber nachzudenken, wie sie aussah. Keiner der Arbeiter hatte je bei ihr angeklopft. Nicht, dass sie das vermisst hätte – es war gut, dass sie in ihrem Zimmer ihre Ruhe hatte und nicht zu den ungünstigsten Zeiten mit Besuch rechnen musste.
»Hallo«, sagte sie mit heiserer Stimme.
Hákon musterte sie verwundert.
»Entschuldige, dass ich störe.«
Er war barfuß, und seine Unterhose ragte über den Bund seiner Jeans.
»Ich weiß nicht, was los ist, Aldís, aber Lilja war eben hier. Sie wollte mit dir sprechen, war aber so aufgebracht, dass ich sie nicht reingelassen habe«, fügte er hinzu.
»Was?« Aldís hatte das Gefühl, dass es ihr die Beine wegriss, und klammerte sich an die Türklinke. Einen Streit mit Lilja würde sie nicht auch noch verkraften. »Was wollte sie?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber sie wollte, tja, also, dass du dich vom Acker machst.« Hákon fuhr sich mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. Sein Bart war am Ansatz grau, und über seine Wangen zog sich ein Geflecht von geplatzten Äderchen. »Heute Abend.«
»Heute Abend?« Aldís schluckte. »Wo soll ich denn hin?«
Im Geiste ging sie bereits durch, welche Klamotten sie noch auf der Wäscheleine hängen hatte und wie viele Sachen sie besaß. Als sie nach Krókur gekommen war, hatte eine alte, abgenutzte Reisetasche gereicht, die fast auseinanderfiel. So gut wie nichts war seitdem hinzugekommen.
»Wo soll ich denn hin?«
Natürlich wusste Hákon das auch nicht, aber wen sollte sie sonst fragen?
»Hast du keine Freunde oder Verwandte in der Stadt?«, entgegnete er. Aldís schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind. »Soll ich mit Lilja reden? Sie müssen dir ja zumindest Zeit geben, um etwas zu organisieren.«
»Nein.«
Aldís biss sich auf die Lippe, die wieder an derselben Stelle aufplatzte wie in der Nacht im Keller.
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