Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
gesehen. Verhaltet euch am besten ganz unauffällig.«
Er musste nichts weiter erklären. Tobbi wurde hektisch, zog die Mütze wieder über seinen Kopf und spähte verunsichert über den Hof. Einar musste bereits gehört haben, dass sich Aldís im Aufbruch befand, und sie atmete erleichtert auf. Nun würde sie ihn nie wiedersehen und konnte sich bemühen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Einar schien ihre Gedanken zu lesen und starrte sie an, als wolle er sich jeden Zug in ihrem verheulten Gesicht einprägen.
»Bist du krank?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und strich sich automatisch übers Gesicht, als würde es dadurch wieder glatt und hübsch. Als Einar zu einer weiteren Frage ansetzte, grüßte sie nur kurz, schloss das Fenster und sah den beiden nach, wie sie gemeinsam die Auffahrt entlanggingen.
Als Aldís eine Bewegung an der Ecke des Hauptgebäudes wahrnahm, verkrampfte sich ihr Magen. Eine fröhliche, hellgrüne Farbe, die die düstere, unheimliche Umgebung zerriss. Aldís zog den Spalt in der Gardine etwas weiter auf, als sie Lärm und Geschrei hörte. Einar und Tobbi schienen es auch gehört zu haben, denn sie waren vor dem Auto stehen geblieben, dessen Motor vor sich hin tuckerte. Zwei Personen kamen um die Ecke, und die Jungen duckten sich. Als sie auf den Hofplatz zugingen, öffnete Einar vorsichtig die Wagentür, und die Jungen schlüpften auf den Rücksitz. Die größere Person war vollauf damit beschäftigt, die kleinere weiterzuziehen. Erst, als sie näher gekommen waren, sah Aldís, um wen es sich handelte.
Sie ließ die Gardine fallen und trat vom Fenster zurück. Die Haare auf ihren Armen richteten sich auf, und sie schaltete hastig das Licht aus, damit sie durchs Fenster nicht gesehen wurde. Was, wenn Eyjalín Veigar entwischte? Vielleicht hatte sie immer noch das Messer, mit dem sie ihr in der Nacht im Keller gedroht hatte. Die Neugier trieb Aldís wieder zum Fenster. Sie sah, wie Veigar versuchte, die tobende Eyjalín zum Wohnhaus zu schleppen, in dem sich das Büro befand. Wahrscheinlich wollte er sie in die kleine Kammer sperren, in der aufsässige Jungen manchmal ausharren mussten, während man auf die Polizei wartete.
Aldís beobachtete die Geschehnisse gebannt. Das Mädchen trat und schlug um sich und kratzte Veigar ins Gesicht, als er die Tür aufmachte. Daraufhin verlor er die Fassung und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Eyjalín sackte zusammen, und Veigar zog sie ins Haus. Die Tür schlug zu, alles war wieder wie vorher, als hätte Aldís nur geträumt. Dann ging im Haus das Licht an.
Aldís wandte ihren Blick zum Auto. Dort regte sich nichts, weder Einar noch Tobbi steckten den Kopf heraus, um zu überprüfen, ob die Luft rein war. Vielleicht waren sie schon ausgestiegen, während Aldís Veigar und Eyjalín beobachtet hatte. So musste es sein. Über dem Wagen lag eine merkwürdige Ruhe, deren Bedeutung ihr nicht richtig klar war.
Aldís setzte sich auf die Bettkante und fixierte ihre Reisetasche an der Tür. Der Busfahrer hatte auf der Fahrt nach Südisland den Griff auf der einen Seite mit einer Kordel festgebunden. Vielleicht traf sie ihn ja auf dem Heimweg wieder. Im Grunde gab es keinen anderen Ort, wo sie hinkonnte. Ihr Erspartes würde für einen längeren Aufenthalt in der Stadt nicht reichen, und wer wollte schon ein schwangeres junges Mädchen einstellen? Das Schlimmste war, dass sie ihre Mutter noch nicht angerufen hatte. Es wäre besser, sich hinter einem Telefonhörer verstecken zu können, wenn sie ihr die Neuigkeit mitteilte. Nichts würde mehr so sein wie früher.
Doch mit diesem Problem würde sie sich später auseinandersetzen. Vom Busbahnhof konnte sie bestimmt telefonieren. Nun war es wichtiger, hier und jetzt eine Entscheidung zu treffen. Aldís wollte nicht draußen im Wagen sitzen und warten, bis Veigar mit Eyjalín fertig war, denn das konnte sich bis in die Nacht hinein hinziehen. Vielleicht würden sie nach den jüngsten Vorfällen auch erst morgen früh fahren. Aldís ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Sie schloss die Augen und versuchte, sämtliche Gedanken auszulöschen. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben, einfach nur da sein.
Beim Geräusch eines Autos schreckte sie von einem unruhigen Schlaf hoch. Sie schleppte sich aus dem Bett, davon überzeugt, dass Veigar mit Eyjalín in die Stadt gefahren war. Doch sein Wagen stand noch an derselben Stelle. Ein anderes Auto war auf den Hof gefahren, und ein Mann in einem Mantel, den sie
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