Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Diesmal änderte der Blutgeschmack nichts – er bestärkte sie nicht und ließ sie auch nicht ihre Probleme vergessen.
»Ich gehe einfach. Ich will keine Sekunde länger hier sein«, sagte sie. Der kindische Gedanke schoss ihr durch den Kopf, dass Lilja es noch bereuen würde, wenn sie draußen erfror, alleine mit ihrer Reisetasche in der Winternacht, und alle dem Ehepaar die Schuld gäben.
»Du gehst nirgendwo hin, Aldís, wenn du keine Übernachtungsmöglichkeit hast. Du willst ja wohl nicht unter freiem Himmel schlafen?«, wandte Hákon ein.
»Ich finde schon eine Lösung«, erwiderte sie. Dabei sackten ihr fast die Beine weg.
»Was ist eigentlich los, Aldís?« Hákon steckte die Hände in seine Hosentaschen und merkte, dass seine Unterhose hervorlugte. Verlegen versuchte er, sie in den Bund zu schieben, was ihm mehr schlecht als recht gelang. »Lilja war so wütend, dass ich dachte, sie explodiert gleich. Sie hat sich dermaßen über dich aufgeregt, dass ich sie bremsen musste. Das war mir echt zu viel.«
»Die ist doch bescheuert. Ich gehe. Das kannst du ihr sagen, wenn sie wiederkommt. Ich packe und dann bin ich weg.«
Aldís war den Tränen nah, biss aber die Zähne zusammen.
»Du gehst auf keinen Fall zu Fuß los, bist du verrückt? Lilja hat gesagt, Veigar würde dich in die Stadt fahren. Du sollst zum Auto kommen, wenn du fertig bist. Sie meinte, Veigar sei in zwanzig Minuten fertig. Reicht dir das, um zu packen?«
»Ja«, antwortete sie nur. Wenn sie Hákon erzählen würde, wie wenige Sachen sie besaß, würde sie anfangen zu heulen. »Das schaffe ich.«
»Er soll dich zum Busbahnhof bringen. Da kannst du dich bestimmt bis morgen früh im Wartesaal ausruhen«, sagte Hákon und reichte ihr seine Hand. »Es war nett, dich kennenzulernen, Aldís, und alles Gute. Vergiss nicht, dass es meistens besser kommt, als man denkt.«
Aldís spürte die Hornhaut in seiner Handfläche.
»Danke, gleichfalls.«
Sie machte die Tür zu, knallte ihre Reisetasche aufs Bett und fing an, ihre Klamotten hineinzustopfen. Als Nächstes räumte sie ihren Nachttisch und ihre Kommode leer. Ein paar Minuten später hatte sie ihren Kulturbeutel aus dem Badezimmer geholt. Dort hatte sie sich immerhin die Zeit genommen, ihren Durst zu stillen und sich eiskaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen.
Dann setzte sie sich in Jacke und Schuhen auf die Bettkante und schaute sich ein letztes Mal im Zimmer um. Sie würde nichts vermissen. Sie ging zum Fenster und blickte hinaus. Der Motor von Veigars Wagen lief, aber er wurde bestimmt nicht für sie aufgewärmt. In der Auffahrt sah sie eine kleine Gestalt heraneilen und sich hektisch umschauen. Es war Tobbi. Er winkte ihr zu und kam dann angelaufen, bis er keuchend im Schnee unter ihrem Fenster stand und ihr ein Zeichen gab, es zu öffnen.
»Ich wollte mich nur von dir verabschieden. Ich hab gehört, wie Lilja gesagt hat, dass sie dich heute Abend wegschicken will.«
Aldís wünschte, sie hätte den Jungen zu sich hochziehen können.
»Danke, Tobbi. Wir sehen uns bestimmt wieder. Ich fahre wahrscheinlich in den Norden. Vielleicht verschlägt es dich ja mal dorthin.«
Der Junge spähte in alle Richtungen und schaute dann wieder zu ihr hoch.
»Bitte entschuldige, dass ich nicht die Wahrheit über diese abartige Frau im Speiseraum gesagt habe. Ich hatte solche Angst vor ihr. Sie hat mich abgepasst, als ich die Post holen war, und mich gezwungen, ihr zu sagen, wo Einars Zimmer ist. Dann sollte ich sie treffen und sie wollte mir weh tun, wenn ich sie nicht zu Einar bringen würde. Und dann kamst du. Sie war schrecklich. Sie hat nach Blut gerochen.« Er atmete heftig. »Schmeißt Lilja dich deshalb raus?«
»Nein, nicht deshalb. Du kannst nichts dafür.«
Aldís wollte noch mehr sagen, doch da kam jemand um die Ecke und brachte sie durcheinander. Sie kannte seinen Gang und die Art und Weise, wie er seine Augen vor dem Wind abschirmte. Am liebsten hätte sie sich von Tobbi verabschiedet und das Fenster zugeknallt. Wenn Einar auch von dem Rausschmiss gehört hatte, würde er den Grund wissen wollen, und sie hatte keine Erklärung parat. Immerhin war es besser, durchs Fenster mit ihm zu reden als in ihrem Zimmer.
»Da seid ihr ja. Genau euch wollte ich treffen«, sagte Einar leise. Er zog Tobbi die Mütze vom Kopf und zerwuschelte sein Haar, so dass es noch ungekämmter aussah als sonst. Dann blickte er nach oben. »Ich wollte euch warnen. Sie ist hier. Ich hab sie eben hinter dem Haus
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