Seelen
kommt mir einfach nicht fair vor«, sagte Ian schließlich. »Ich habe viel darüber nachgedacht und festgestellt, dass es die Sache nicht besser machen würde, wenn ich dich umbrächte. Es wäre so, als würde man einen Zivilisten für die Kriegsverbrechen eines Generals hinrichten. Allerdings kaufe ich Jeb seine verrückten Theorien nicht ab - klar, es wäre nett, daran glauben zu können, aber nur, weil man gerne möchte, dass etwas wahr ist, heißt das noch nicht, dass das auch so ist. Aber egal, ob er Recht hat oder nicht, du stellst ganz offensichtlich keine Bedrohung für uns dar. Ich muss zugeben, dass du den Jungen wirklich zu mögen scheinst. Es ist seltsam, das zu beobachten. Wie auch immer, so lange du uns nicht in Gefahr bringst, käme es mir … grausam vor, dich umzubringen. Und ein Außenseiter mehr oder weniger hier in der Höhle - was macht das schon für einen Unterschied?«
Ich dachte einen Moment lang über das Wort Außenseiter nach. Das war vielleicht die treffendste Beschreibung für mich, die ich mir vorstellen konnte. Wo hatte ich schon je wirklich dazugehört? Wie seltsam, dass sich unter all den Menschen ausgerechnet Ian als so überraschend freundlich entpuppte. Ich hätte nicht gedacht, dass Grausamkeit etwas Negatives für ihn war.
Er wartete schweigend ab, während ich über all das nachdachte.
»Wenn du mich nicht umbringen willst, warum hast du mich dann heute begleitet?«, fragte ich.
Er machte wieder eine Pause, bevor er antwortete.
»Ich bin mir nicht sicher, dass …« Er zögerte. »Jeb glaubt, dass sich die Lage beruhigt hat, aber ich bin mir, was das angeht, nicht völlig sicher. Es gibt da immer noch ein paar Leute … Wie auch immer, Doc und ich versuchen, sooft wir können, ein Auge auf dich zu haben. Vorsichtshalber. Dich in den südlichen Tunnel zu schicken, hieß meiner Meinung nach, das Schicksal sehr herauszufordern. Aber so ist Jeb - er fordert das Schicksal gern bis zum Letzten heraus.«
»Du … du und Doc versucht mich zu beschützen ?«
»Seltsame Welt, was?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bevor ich antworten konnte.
»Die seltsamste von allen«, pflichtete ich ihm schließlich bei.
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G enötigt
E ine Woche verstrich oder auch zwei - hier, wo Zeit überhaupt keine Rolle spielte, schien es sinnlos, die Tage zu zählen - und meine Situation wurde immer seltsamer.
Ich arbeitete täglich mit den Menschen zusammen, aber nicht immer mit Jeb. An manchen Tagen kam Ian mit, an manchen Doc und manchmal bloß Jamie. Ich jätete das Feld, knetete Brotteig und schrubbte Tresen. Ich schleppte Wasser, kochte Zwiebelsuppe, wusch Wäsche am hinteren Ende des schwarzen Beckens und verätzte mir die Hände beim Herstellen der hautreizenden Seife. Jeder leistete seinen Beitrag, und da ich hier eigentlich nichts zu suchen hatte, arbeitete ich doppelt so hart wie der Rest, ich wusste, dass ich mir hier keinen Platz verdienen konnte, aber ich versuchte den anderen durch meine Anwesenheit so wenig wie möglich zur Last zu fallen.
Ich erfuhr ein wenig über die Menschen um mich herum, hauptsächlich einfach dadurch, dass ich ihnen zuhörte. Zumindest lernte ich ihre Namen. Die karamellhäutige Frau hieß Lily und war aus Philadelphia. Sie hatte Sinn für trockenen Humor und verstand sich mit allen gut, denn sie ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Der junge Mann mit den schwarzen Stoppelhaaren, Wes, sah sie oft an, aber das schien sie nicht zu bemerken. Er war erst neunzehn und aus Eureka, Montana, geflohen. Die Mutter mit den müden Augen hieß Lucina und ihre beiden Jungen Isaiah und Freedom - Freedom war hier in den Höhlen von Doc auf die Welt geholt worden. Diese drei sah ich nicht oft; es schien, als hielte die Mutter ihre Kinder auf Distanz zu mir, so gut es in diesen beengten Räumlichkeiten ging. Der Mann mit dem schütteren Haar und den roten Wangen war Trudys Ehemann; er hieß Geoffrey. Sie waren häufig mit einem anderen Mann zusammen, Heath, der seit früher Kindheit der beste Freund Geoffreys war; die drei waren gemeinsam vor der Invasion geflohen. Der bleiche, weißhaarige Mann war Walter und er war krank, aber Doc wusste nicht, was ihm fehlte - es gab keine Möglichkeit, es herauszufinden, nicht ohne Laboruntersuchungen -, und selbst wenn Doc die Krankheit hätte diagnostizieren können, hatte er doch keine Medikamente, um sie zu behandeln. Als die Symptome fortschritten, begann Doc zu glauben, dass es sich um Krebs handelte. Es schmerzte mich, jemanden
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