Seelen
Ich wollte gerade sagen »keinen Hunger«, als mein Magen ungehorsam knurrte.
»Wanda?« Er sah mich an, dann zurück zu Lucina, die die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
»Ich nehme einfach ein bisschen Brot«, murmelte ich und versuchte ihn wegzuschieben.
»Nein. Lucina, wo liegt das Problem?« Er sah sie abwartend an. Sie rührte sich nicht. »Ich mache hier gerne weiter«, schlug er vor während er die Augen zusammenkniff und sein Mund eine störrische Linie bildete.
Lucina zuckte mit den Achseln und legte die Kelle auf den Steintresen. Sie ging langsam weg, ohne mich noch einmal anzusehen.
»Jamie«, murmelte ich leise drängend. »Dieses Essen ist nicht für mich gedacht. Jared und die anderen haben nicht ihr Leben riskiert, damit ich Rührei zum Frühstück bekomme. Brot ist in Ordnung.«
»Red keinen Quatsch, Wanda«, sagte Jamie. »Du lebst jetzt genauso hier wie wir anderen. Es macht ihnen ja auch nichts aus, wenn du ihre Kleider wäschst oder ihr Brot backst. Außerdem hält dieses Rührei sowieso nicht mehr lange. Wenn du es nicht isst, wird es weggeworfen.«
Ich spürte, wie sich alle Augen im Raum in meinen Rücken bohrten.
»Das würden manche hier sicher bevorzugen«, sagte ich noch leiser. Vermutlich konnte mich außer Jamie niemand hören.
»Vergiss es«, knurrte Jamie. Er schwang sich über den Tresen und füllte noch eine Schale mit Rührei, die er mir zuschob. »Das wirst du bis zum letzten Bissen aufessen«, erklärte er mir entschlossen.
Ich sah die Schale an. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich schob sie ein Stück von mir weg und verschränkte die Arme.
Jamie runzelte die Stirn. »Okay«, sagte er und schob seine eigene Schale über den Tresen von sich weg. »Wenn du nichts isst, esse ich auch nichts.« Sein Magen knurrte hörbar. Er verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust.
Zwei lange Minuten starrten wir uns an, während unsere beiden Mägen beim Geruch des Rühreis knurrten. Von Zeit zu Zeit warf er aus den Augenwinkeln einen Blick auf das Essen. Und das war es, was mich schließlich nachgeben ließ: der sehnsüchtige Blick in seinen Augen.
»Also gut«, schnaufte ich. Ich schob ihm seine Schale zu und zog dann meine eigene heran. Er wartete, bis ich den ersten Bissen in den Mund gesteckt hatte, bevor er anfing zu essen. Ich unterdrückte ein Seufzen, als meine Zunge den Geschmack wahrnahm. Ich wusste, dass dieses lauwarme, zähe Rührei nicht das Beste war, was ich je gegessen hatte, aber genauso fühlte es sich an. Dieser Körper lebte für den Augenblick.
Jamie reagierte ähnlich. Und dann begann er, das Essen so schnell in sich hineinzuschaufeln, dass er kaum Zeit zum Luftholen hatte. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, um sicherzugehen, dass er nicht erstickte.
Ich aß langsamer in der Hoffnung, ihn überzeugen zu können, noch etwas von meiner Portion zu essen, wenn er fertig war. Jetzt, wo unsere kleine Auseinandersetzung beendet und mein Hunger gestillt war, nahm ich schließlich die Atmosphäre in der Küche in mich auf.
Ich hatte aufgrund der Begeisterung über das Rührei nach monatelanger Eintönigkeit eine gewisse Festtagslaune erwartet. Aber die Stimmung war gedrückt, die Gespräche wurden nur im Flüsterton geführt. War das ein Ergebnis der Szene gestern Abend? Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen und versuchte zu verstehen, was vor sich ging.
Es gab zwar ein paar Leute, die mich ansahen, aber das waren nicht die Einzigen, die sich flüsternd und mit ernstem Gesicht unterhielten, und die anderen kümmerten sich überhaupt nicht um mich. Außerdem wirkte keiner von ihnen wütend oder schuldbewusst oder angespannt oder zeigte sonst irgendeine der Emotionen, die ich erwartet hatte.
Nein, sie waren traurig . Allen hier im Raum stand Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.
Sharon war die Letzte, die ich bemerkte. Sie aß wie immer abseits von den anderen in einer entlegenen Ecke. Sie aß mechanisch und wirkte so gefasst, dass ich zuerst gar nicht bemerkte, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Sie fielen in ihr Essen, aber sie aß weiter, als würde sie es nicht bemerken.
»Ist irgendwas mit Doc?«, flüsterte ich Jamie zu. Ich hatte plötzlich Angst und fragte mich, ob ich unter Verfolgungswahn litt - vielleicht hatte das hier ja überhaupt nichts mit mir zu tun. Die Traurigkeit im Raum schien Teil eines anderen menschlichen Dramas zu sein, von dem ich ausgeschlossen war. Waren deswegen alle so beschäftigt? Hatte es einen Unfall
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