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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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glich, die auf einen langen Stammbaum zurückblicken konnte, aber keine Erben mehr hatte. Er hatte das Gebäude günstig von der Stadt erworben, genauer gesagt, es mithilfe von Geschenken und Trinkgeldern gegen zwanzig billig erworbene Plattenbauwohnungen im Stadtteil Ljulin getauscht.
    Vor dem Eingang zum Haus mit der Uhr standen die Recken Eduard Toschevs schwitzend in der Sonne. Sie wirkten »normal«, also unaufgeregt und wohlerzogen, standen aber durch headphones in direktem Funkkontakt zu ihrem Chef und trugen Maschinenpistolen unter ihren Sakkos. Vom Springbrunnen in der Mitte des Restaurantgartens kam wenigstens etwas Kühle, die aber nach abgestandenem Wasser roch. Ein schöner weißer Schirm spendete Schatten, in dem die Augen Eduard Toschevs kaum zu erkennen waren. Diese Augen studierten Christo unablässig, ohne auch nur einmal zu zwinkern. Man hätte meinen können, Toschev begegnete Christo zum ersten Mal. Sein glattrasierter Schädel schimmerte matt über einem tadellosen Anzug, bei dem man aber den Eindruck nicht loswurde, der schlaksige Mann käme gerade von einer Beerdigung. Sie tranken einen edlen Traubenbrand zu ihrem Hirtensalat; als Hauptgericht hatten sie Reh in Steinpilzsauce bestellt. Toschev schob sein Besteck auf der Stoffserviette herum; dabei klimperten seine Finger darüber, als seien es die Tasten eines Klaviers, und das lenkte Christo ab und reizte ihn.
    Â»Nun spielen Sie mal nicht den barmherzigen Samariter, Herr Weltschev«, lächelte Eduard Toschev aufmunternd.
    Â»Ich spiele nicht … Das mag ein großes, ein verhängnisvolles Defizit meines Wesens sein, aber ich bin wirklich so«, lächelte Christo verbindlich zurück.
    Â»Sie werden sich daran gewöhnen müssen«, erwiderte Toschev unverändert leise und nachdenklich, als spräche er mit sich selbst. »Moral, sittliche Grundsätze, Gewissen – das ist alles Augenwischerei und dummes Zeug! Alles in dieser prosaischen Welt ist Ware, die man kaufen oder verkaufen kann; nur der Preis variiert. Adam Smith hatte recht: Nicht der Odem Gottes, nicht Geist oder Willen sind das treibende Element des Menschen …« Er machte eine Bedeutungspause, um dem Folgenden mehr Gewicht zu geben. »Das treibende Element ist der Eigennutz, der pure Egoismus. Der beflügelt uns, spornt uns an, nicht Ideale. Ideale sind unbeständig und vorübergehend, nur der menschliche Eigennutz ist unvergänglich. Ob zum Guten oder zum Bösen, das ist eine nachrangige Frage, die Evolution hat uns im Kampf ums Überleben nun einmal so programmiert.«
    Christo antwortete mit Schweigen. Er sah nun, warum die Präsenz dieses undefinierbaren Menschen immer solche Beklemmungen bei ihm auslöste: Er machte ihm Schuldgefühle und stürzte ihn in eine Unruhe, als nähere sich eine noch ungreifbare Bedrohung. Ohne seine Augen von Christo abzuwenden, fuhr Toschev fort:
    Â»Ich habe in einer Zeitschrift den Essay irgend so eines Deutschen gelesen, in dem dieser behauptete, dass die Menschen in Osteuropa die Öffnung zum Westen nicht etwa wegen ihrer Sehnsucht nach Freiheit oder anderen geistigen Werten so ersehnt hätten, sondern einfach deshalb, weil es im Westen Konsumgüter gab, die sie nicht hatten. Die überlegene Warenwirtschaft sei es gewesen, die in der Konfrontation mit der Mangelwirtschaft der RGW-Länder den Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme herbeigeführt habe. Die These des Autors lautete, der Kapitalismus biete den Menschen Konsum und Annehmlichkeiten im Hier und Jetzt, während der Sozialismus nur eine diffuse Gleichheit und pathetische Versprechen auf zukünftige, ständig ins Später vertagte Wohlfahrt zu bieten hatte.« Er nippte an seinem Traubenbrand, dann fragte er, ohne eigentlich neugierig auf Christos Meinung zu sein: »Was halten Sie von dieser Auffassung?«
    Â»Habe noch nicht darüber nachgedacht«, antwortete Christo vorsichtig.
    Â»Ich finde, der Kerl hat recht. Die ganze pathetische Bereitschaft des Menschen, sich zu opfern im Namen hoher Ideale, ist Frucht der Unzufriedenheit und erschöpft sich rasch. Ideale kann man nicht anfassen, man kann sie nicht zeigen, nicht drin wohnen; sie geben dem Menschen kein sicheres, dauerhaftes Zuhause. Die Dinge, die man kaufen kann, schon. Darum mögen sie zwar nichts Geistiges an sich haben; sie machen aber manchmal sogar glücklich. Darum mag es unsere

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