Seelenbrand (German Edition)
des Schranks. »Hier ist die Hacke.« Marie war überrascht, als er ihr das monströse Werkzeug vor die Nase hielt. »Nun machen Sie mal!«
Einen Augenblick zögerte sie, riß ihm aber dann den Stiel des schweren Geräts aus den Händen und schleifte es zum Schrank hinüber, während er mit verschränkten Armen dastand. Unter Stöhnen und Ächzen wuchtete sie das Stahlungetüm über ihren Kopf und ließ es dann schwankend gegen die Rückwand des Schranks knallen, ohne daß auch nur ein Holzsplitterchen davonflog. Er schüttelte den Kopf und sah genervt zu, wie sie versuchte das Instrument wieder über ihrem Kopf in Stellung zubringen. Den Gestank hatte sie offenbar ganz vergessen. Ihr Temperament war wirklich erstaunlich.
»Das ist ja nicht mit anzusehen!« Unwirsch trat er von hinten an sie heran und zerrte ihr die Hacke, die sie immer noch mit ihren zittrigen Armen über dem Kopf hochstemmte, aus den Händen. »Ist ja gut! Ist ja gut! Wir machen zusammen weiter! Einverstanden?«
»Aber nur, wenn Sie mir alles von der Geheimtür in der Villa erzählen!«
Konnte sie nicht einfach mal nur ›Ja‹ sagen ... ohne gleich wieder neue Bedingungen zu stellen?
»Nachdem wir das also geklärt haben, sollten wir überlegen«, er klopfte mit der Faust gegen die hölzerne Rückwand, »ob wir wirklich herausfinden wollen, was hier diesen infernalen Gestank verbreitet.«
Eifriges Nicken von Marie.
»Na gut!« Pierre zog den Stopfen aus dem Fläschchen mit dem Lavendelextrakt. »Dann geben Sie mir mal Ihr Taschentuch!« Seine Anordnung duldete keinen Widerspruch, und da Marie erreicht hatte, was sie wollte, hielt sie ihm – ohne jeden weiteren Kommentar – ihr akkurat gebügeltes, mit feiner Spitze besetztes Stücken Stoff hin. »Das wird uns vor dem Gestank schützen. Wir wollen doch nicht, daß Sie ohnmächtig werden!«
»Ich bin zwar nur eine Frau, die vielleicht nicht so gut wie Sie die Hacke schwingen kann, aber ich bin keine Mimose!«
Pierre hatte sich schon wieder dem Schrank zugewandt und schlug den Kragen seiner Soutane hoch. Die Stelle des Stoffs, die ihm jetzt vor Mund und Nase lag, beträufelte er ebenfalls mit dem Lavendelextrakt und griff danach wieder zur Hacke. Es bedurfte nur einiger gewaltiger Schläge, und das morsche Holz zersplitterte in tausend Stücke. Ein Schwall warmer Luft entstieg dem schwarzen Loch in der Mauer.
»Ein Gang! Ich hab’s doch gewußt!« Pierre rieb sich die Hände, und Marie hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere, das Taschentuch fest auf ihre Nase gedrückt. Diese Mischung aus Lavendelextrakt und fauliger Luft, die Pierres Nasenlöcher durchströmte, war einigermaßen zu ertragen. Er mußte einfach wissen, was da unten war. Vielleicht verriet es ihm etwas über dieses Phantom, denn nach dem Feuer – das vorsätzlich gelegtwurde, davon ging er aus – fühlte er sich nachts in seinem Pfarrhaus nicht mehr sicher.
»Sind Sie bereit?« Er sah sich zu Marie um, die sich vor lauter Neugier direkt hinter ihn gedrückt hatte und wie elektrisiert in die schwarze Öffnung starrte. Dabei bemerkte sie nicht einmal, daß sie ihn förmlich in den Gang drängelte, dessen Stufen in einer sanften Kurve in die Tiefe führten. Die steinernen Treppen waren akkurat aus dem umgebenden Fels gemeißelt, genau wie der mannshohe Gang, der es Pierre trotz seiner Größe erlaubte, seine Hacke zu schultern. Mit der anderen Hand trug er die Lampe voran. Die Treppe schraubte sich in die Tiefe – Windung um Windung. Langsam und vorsichtig tasteten sie sich hinunter.
»Wir kommen bestimmt wieder unter dem Friedhof raus, in dieser okkulten Kammer mit den Figuren.« Sein parfümierter Kragen schluckte wohl die meisten seiner Worte, denn Marie reagierte überhaupt nicht. Er blickte sich um, aber sie war immer noch da und sah bei jedem Schritt gebannt auf ihre Füße, mit der freien Hand tastete sie sich an der Wand entlang. Nach der nächsten Windung der Treppe, die in unendlichen Wendeln nach unten führte, machten sie halt.
»Schon zweiundfünfzig Stufen«, japste sie, als sie sich kurz das Taschentuch von der Nase nahm und schnüffelnd das Gesicht verzog. »Es stinkt immer noch bestialisch, aber diese Sache mit dem Lavendel ...«, sie klopfte ihm anerkennend auf den Arm, »... funktioniert ja tatsächlich!«
Sie setzten sich wieder in Bewegung.
»Zweiundsechzig, dreiundsechzig ...« Ihr Taschentuch erstickte ihre Stimme zwar zu einem Nuscheln, aber das monotone Gemurmel war immer noch
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